Explosiv

Erdgas im Fokus der Geopolitik

Auf dem Gelände des Hafen Mukran bei Sassnitz (Mecklenburg-Vorpommern) auf der Insel Rügen werden Stahlrohre für die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 angeliefert.
In Deutschland gibt es schon jetzt keine Lagermöglichkeit mehr für Erdgas. © picture-alliance / dpa / Stefan Sauer
Von Jan Uwe Stahr · 17.10.2017
Erdgas wird noch Jahrhunderte lang als Rohstoff verfügbar sein. Anders als Erdöl. Der Kampf um Erdgasvorkommen und -märkte beeinflusst die internationale Geopolitik. Zu den Playern gehören ein Konsortium europäischer und russischer Firmen sowie der US-Energiekonzern Exxon, aus dessen Reihen der US-Außenminister Rex Tillerson stammt.
Der Fährhafen von Sassnitz auf Rügen. Von hier aus führen Routen in alle Häfen des Ostseeraumes: nach Dänemark, Schweden, ins Baltikum, nach Finnland und nach Russland. In Sichtweite des Anlegers: Eine viele Hektar große, umzäunte Lagerfläche. Über- und nebeneinander gestapelt, lagern hier tausende Stahlröhren. Länge etwa zehn, Durchmesser etwa einen Meter. Wöchentlich werden es mehr, sagt Gerard Vogel, Produktionsleiter der Firma Wasco, für die diese Röhren angeliefert werden. Vogel kommt aus dem Elsass, die Röhren aus Nordrhein-Westfalen:
"So, wir kriegen die Rohre, die kommen von Mühlheim an der Ruhr. Die werden hoch gebrachte hier per Zug. Wir machen den Umschlag der Rohre auf LKW dann wird das in das Werk eingebracht, zwei Rohre per LKW."
In der Produktionshalle von Wasco hebt ein Kran die tonnenschweren Rohre auf eine Förderanlage. Dann nehmen sich Arbeiter in orangefarbenen Overalls ihrer an.
"Die Rohre, wenn sie in das Werk hereinkommen, werden sie gereinigt mit warmem Wasser, innen und außen. Werden abgewogen und wird die Länge abgemessen. Die Länge brauchen wir, da wird ein Korb drumgebaut."
In Windeseile fertigt ein Schweißroboter Drahtkörbe. In diese werden die Röhren anschließend eingeführt. Danach mit einer elf Zentimeter dicken Betonmanschette umgossen. Damit sie später, wenn sie zu einer Pipeline verschweißt werden, sicher auf dem Ostseegrund liegen. Nord-Stream 2 soll die Gaspipeline heißen und sibirisches Erdgas nach Deutschland leiten. Doch ob sie jemals verlegt wird, kann im Moment niemand sagen.

Acht-Millarden-Euro-Deal

Ein Promotion-Video des französischen Energiekonzerns ENGIE: In einem Pariser Hotel wird gefeiert. Der Anlass, am 24. April dieses Jahres: Ein Finanzierungs-Abkommen über ca. acht Milliarden Euro ist unterzeichnet. Zum Bau der Ostseepipeline "Nord-Stream 2":
"Wir schreiben ein weiteres Kapitel europäischer Energie-Geschichte", sagt Gerhard Schröder. Der ehemalige deutsche Bundeskanzler fungiert als Verwaltungsrats-Vorsitzender der Nord Stream AG. Eine Tochter des halbstaatlichen, russischen Energiekonzerns Gazprom. Noch als amtierender Bundeskanzler hatte er zusammen mit dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin den Bau einer Erdgaspipeline auf den Weg gebracht – das Vorgänger-Projekt.
Der Ex-Bundeskanzler und heutige Aufsichtsratschef bei der Gazprom-Tochter Nord Stream, Gerhard Schröder (SPD), spricht am 01.10.2014 in Rostock-Warnemünde (Mecklenburg-Vorpommern) beim Russland-Tag der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern.
Auf dem Russland-Tag in Rostock wirbt Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder für Vertrauen zu Russland.© dpa / picture-alliance / Jens Büttner
Unter der Regie von Gazprom engagieren sich bei dem aktuellem Projekt, Nord Stream 2, fünf westeuropäische Energieunternehmen: Die französische ENGIE, die britisch-niederländische Shell, OMV aus Österreich, sowie Uniper und Wintershall aus Deutschland. Jährlich bis zu 55 Milliarden Kubikmeter nordsibirisches Erdgas möchte Gazprom künftig durch die Pipeline leiten. Von der Stadt Wyborg in Russland zum 1200 Kilometer entfernten Ostseebad Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern. Und von da aus in die europäischen Gasnetze.
Die Röhrenproduktion laufe auf Hochtouren. Die Verträge seien unterschrieben. Die Genehmigungsprozesse in Gang gesetzt. Die Botschaft von Altkanzler Schröder: Alles in Sack und Tüten. Doch im Europäischen Parlament und bei der EU-Kommission sieht man das ganz anders.
"Dieses Projekt zerstört die europäische Solidarität ", mahnt ein polnischer EU-Parlamentarier.

Grüne und auch CSU-Mitglieder sind gegen das Projekt

"Es ist ganz klar: Nord Stream 2 widerspricht sowohl dem Geist als auch den Absichten unserer Energieunion", findet ein dänischer Abgeordneter.
"Der Bau von Nordstream2 muss sofort gestoppt werden", das ist die unüberhörbare Forderung aus dem Europäischen Parlament in Straßburg.
Polnische Konservative, dänische Sozialdemokraten, deutsche CSU-Mitglieder und Grüne. Balten, Ungarn, Slowaken, Italiener. Die Reihe der Nord Stream 2 – Gegner ist lang.
Nord Stream 2 macht vielen Vertretern dieses Hauses große Sorgen. Aber auch den Mitgliedsstaaten. Und ganz besonders den zentral- und osteuropäischen Mitgliedsländern.
Miguel Cañete, EU-Kommissar für Klima und Energie, gehört zu den Gegnern von Nord-Stream 2 . Und auch viele US-Politiker möchten das Projekt stoppen.
"Die Konflikte um die Nord Stream 2 haben jede Menge Sprengkraft innerhalb der EU aber auch im transatlantischen Verhältnis und letztendlich auch im Verhältnis zu Russland selber."
Sagt Kirsten Westphal von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Ein außenpolitischer Think Tank, der auch die Bundesregierung berät. Der Streit um den Pipelinebau hat viele Motive: Es geht um Versorgungs-Sicherheit, Geschichte, Geschäfte und um Geopolitik.
Jeder zweite deutsche Haushalt heizt mit Erdgas. Gaskraftwerke erzeugen daraus elektrischen Strom. Erdgas treibt Kraftfahrzeuge und Kreuzfahrtschiffe an. Dient als Grundstoff in der chemischen Industrie.

Keine Lagerstätten für Erdgas

Fossiles Erdgas lässt sich mit Biogas vermischen und mit künstlich erzeugtem Methan aus Wind- und Sonnenstrom. Erdgas könne so "Als Brücke dienen von den fossilen zu den erneuerbaren Energien", schreibt das Bundeswirtschaftsministerium in einer Einschätzung.
Protest auf Rügen gegen "Nord Stream 2"
Protest auf Rügen gegen die Ostsee-Pipeline "Nord Stream 2" im Juli 2017.© picture alliance / dpa / Stefan Sauer
Aber: Europas Erdgas-Lagerstätten erschöpfen sich. In Deutschland schon jetzt. In den Niederlanden in naher Zukunft. Und auch in Norwegen werden die Förderraten bald sinken. Kein Problem eigentlich: Denn Erdgas für Europa gibt es mehr als genug. Weltweit. Und vor allem in Russland.
Nur: Der Gas-Riese im Osten ist vielen nicht geheuer. Vor allem die östlichen EU-Mitgliedsländer wollen sich aus der bisherigen Abhängigkeit von russischem Pipeline-Gas befreien. Sie haben schlechte Erfahrungen gemacht. Anders als Deutschland. Bereits vor 50 Jahren bahnte die Bundesrepublik Deutschland das erste Gasgeschäft mit Moskau an, über den Eisernen Vorhang hinweg. Klaus von Dohnanyi, 89 Jahre alt, erinnert sich.
"Ich habe, glaube ich, als erster die Gespräche eröffnet in Moskau, ich glaube im Januar 1969."
Als junger Staatssekretär im Bonner Wirtschaftsministerium, hilft der SPD-Politiker einen spektakulären Deal mit der Sowjetunion einzufädeln: Pipeline-Röhren aus Deutschland gegen Erdgas aus Sibirien. Hinter dem lukrativen Geschäft, das unter anderem von der Deutschen Bank vorfinanziert wird, steht ein politisches Projekt der Sozialdemokraten.

Kalkuliertes Tauwetter um 1970

"Es war ja im Grunde genommen auch der Beginn – 1969/1970 – der Entspannungspolitik von Willy Brandt. Es war schon der Beginn eines gewissen, kalkulierten will ich mal sagen, kalkulierten Tauwetters."
Die Amerikaner, damals im Vietnamkrieg und weltweit aktiv im Kampf gegen den Kommunismus, sind strikt gegen die West-Ost Annäherung. Und gegen das deutsch-russische Röhren-Erdgas-Abkommen.
"Ich habe einmal erlebt, in einem ganz kleinen Kreis zwischen Willy Brandt und Nixon, wie eine glatte Drohung ausgesprochen wurde: Wenn ihr neue Freunde sucht, dann müsst ihr wissen, ob ihr euch eure alten bewahren könnt und so weiter. Also, das war schon heftig."

Geopolitisches Pokerspiel

Die damalige Bundesregierung setzt sich über die Drohungen aus Washington hinweg. Ein geopolitisches Pokerspiel. Doch die Deutschen wussten: Sie hatten gute Karten. Denn so nötig wie Bundesrepublik das Gas, brauchte die Sowjetunion deutsche Technik und Devisen. Rückblickend war der umstrittene Gas-Röhren-Deal ein Erfolg. Für die Wirtschaft und für die Entspannungspolitik.
Nun gibt es wieder Stress um Pipelines und Gas: Bei der Nord Stream 2. Wieder geht es um Angst vor Abhängigkeit von Russland. Wieder sind die USA dagegen, sie drohen mit Sanktionen. Auch in der EU wird das Projekt kritisiert: als politisch motiviert und gefährlich. Die Bundesregierung hat das bisher zurückgewiesen. Ihr Argument: Die Erdgaspipeline sei ein rein kommerzielles Vorhaben, in das keinerlei öffentliche Gelder fließen. Doch ganz so einfach ist das nicht, meint Kirsten Westphal von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
"Nord Stream 2 ist ein Projekt, was wirklich sehr, sehr viele Facetten hat. Und man muss, glaube ich, eine ganze Bandbreite an Dimensionen anschauen."
Aus Sicht des nordwest-europäischen Gasmarktes ergäbe die neue Ostseepipeline ganz grundsätzlich einen wirtschaftlichen Sinn:
"Weil wir eine direkte Verbindung zu den großen sibirischen Erdgasreserven bekommen, zu den neuen, also nicht mehr nur zu den alten Feldern, die sich erschöpfen. Sondern es sind ganz neue Felder und es war auch Teil jeder neuen Stufe in der Entwicklung des Gashandels mit dem Erschließen neuer Felder eine neue Infrastruktur zu bauen. Also das ist ein Muster, das wir aus der Vergangenheit kennen. Dann aber ist ganz wichtig: Man hat natürlich die politische Dimension."

"Normales, kapitalistisches Geschäftsgebaren"

Die politische Dimension betrifft die Europäische Union als Ganzes. Denn anders als das westliche Deutschland haben EU-Länder, die früher zum Ostblock gehörten, auch schlechte Erfahrungen mit dem Erdgaslieferanten aus Russland gemacht.
Zum Beispiel, als die baltischen Länder in die Europäische Union wollten. Die Reaktion aus Russland kam mit der Gasrechnung: Gazprom erhöhte die Preise auf das sechsfache - von "Freundschaftspreisen" auf "Marktpreise". Die lagen noch deutlich über denen, die Gazprom in Deutschland berechnete. "Politisch motiviert von Moskau", so sah man es in Litauen, Lettland und Estland. "Normales, kapitalistisches Geschäftsgebaren", urteilt dagegen der Volkswirtschaftler Roland Götz, langjähriger Beobachter der russischen Energiepolitik
"Erdgas wird in jedem Land so verkauft, wie das die Konkurrenzlage erlaubt. Das heißt in den Ländern, in denen Erdgas aus verschiedenen Richtungen, wie zum Beispiel in Deutschland, aus Norwegen, aus den Niederlanden und aus England bezogen werden kann, da ist auch der Preis, den Gazprom fordern kann niedrig. Weil es eben die Konkurrenz berücksichtigen muss. Andere Länder, wie die baltischen Staaten oder die Ukraine, die ausschließlich von Russland beliefert werden, da ist der Preis hoch."
In der Ukraine führten drastische Preiserhöhungen ab 2004 zu anhaltenden Streitigkeiten mit der russischen Gazprom. Sie gipfeln in mehrtägigen Lieferunterbrechungen. Auch EU-Länder sind betroffen. Denn sie werden über die ukrainischen Transitpipelines mitversorgt. Von einem "Gaskrieg" ist die Rede. Russland- und Gazprom-Kenner Götz sagt:
"Das hat dazu geführt, dass in der Europäischen Union, wo diese Staaten doch auch einen relativ großen Einfluss haben, die Stimmung umgeschwenkt ist. Man sieht Energiefrage, was Russland anbetrifft, vor allem unter dem Sicherheitsaspekt und übertreibt gewaltig."

Erheblicher Vertrauensverlust gegenüber Russland

Fakt ist: Diese Ereignisse führten zu einem erheblichen Vertrauensverlust gegenüber Russland. Die Zeiten vertrauensvoller "Energiepartnerschaft" waren vorbei. In Brüssel schmiedete man nun Vorsorge- und Notfallpläne für weitere Lieferausfälle. Beschloss finanzielle Hilfen für den Bau neuer Gasleitungen. Sie sollen östliche Mitgliedsländer, die abhängig sind von Russland, besser mit dem Westen verbinden.
Auch in Russland will man neue Leitungen bauen. Direktverbindungen zum wichtigen Gasmarkt im Westen. Die teuren Transitgebühren und Streitigkeiten mit der Ukraine umgehen. Am 6. September 2011 wird eine erste dieser neuen Gaspipelines feierlich in Betrieb genommen, die sogenannte Nord Stream 1. In den Nachrichten wird damals verkündet:
"Nach rund eineinhalb Jahren Bauzeit strömt russisches Erdgas durch die Ostseepipeline Nord Stream direkt nach Deutschland. Für Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin endet damit das Diktat der Transitländer, wie er sagte. Nord Stream ist auch ein Projekt von Gerhard Schröder. Mit Putin brachte er 2005 das Jahrhundertvorhaben auf den Weg. Schröder als deutscher Bundeskanzler, Putin als Kreml-Chef."
Die Aufregung bei Deutschlands Nachbarn ist groß: "Ein neuer Molotow-Ribbentrop-Pakt" sei der Gas-Deal von Schröder und Putin, schimpfen polnische Regierungsmitglieder. Wie schon 1939, am Beginn des Zweiten Weltkrieges, werde Polen den russisch-deutschen Interessen geopfert. Beim Blick auf die engen deutsch-russischen Gasbeziehungen schwingen historische Erfahrungen mit, sagt Kirsten Westphal. Das gelte auch jetzt für das aktuelle Projekt Nord Stream 2.
"Was glaube ich, auch eine große Rolle spielt, im Baltikum, aber auch in Polen, ist nicht nur die Sorge vor Russland sondern auch ein besorgter, kritischer Blick auf das, was als Alleingang der Deutschen auch gesehen wird und die Situation, durch eine Pipeline wieder umgangen zu werden."
Die russische Annexion der Krim, 2014, und die militärischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine lassen auch Polen und Balten um ihre Sicherheit fürchten. Doch für ihre Gasversorgung hatten sie sich bereits um Alternativen bemüht.

Wettbewerb belebt das Geschäft

Dezember 2015: Ein gigantisches Tankschiff nimmt Kurs auf den Hafen im polnischen Seebad Swinouscie. Die "Al Nuaman": 315 Meter lang, 50 Meter breit. Ihre Ladung: 122 Tausend Tonnen flüssiges Erdgas, tiefgekühlt auf minus 162 Grad. Ein polnischer TV-Sender übertragt das Schauspiel und unterlegt die Aufnahmen mit heroischen Klängen
Das sogenannte "Liquified Natural Gas", kurz LNG, kommt aus Katar. Das arabische Emirat ist der weltweit größte Anbieter von LNG. Produziert, vermarktet und verschifft wird das Gas mit Hilfe des amerikanischen Energiekonzern EXXON. Deren Chef hieß damals noch Rex Tillerson, jetzt Außenminister unter Donald Trump
Mit finanzieller Hilfe der EU hat Polen ein LNG-Terminal errichtet. Hier kann das LNG nun gelöscht, erwärmt und in das Erdgasnetz eingespeist werden. Zuvor hatte schon Polens Nachbar, Litauen, ein schwimmendes LNG-Lager verankern lassen, im Hafen von Klaipeda. Gazprom reagierte prompt und senkte den Preis für das Pipeline-Gas. Wettbewerb belebt das Geschäft.
Das Interesse östlicher EU-Länder am LNG, lockt einen weiteren Gasverkäufer an. Den amerikanischen Präsidenten Donald Trump:
"Amerika steht bereit, Polen und anderen europäischen Ländern beim Energiebezug zu helfen. Damit sie niemals zur Geisel eines einzigen Anbieters werden können."
So verspricht es – im Juli dieses Jahres – der US-Präsident. Unmittelbar vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Hamburg, macht Trump noch einen Abstecher nach Polen, zu einem Treffen der sogenannten "Drei-Meeres-Initiative". Zwölf östliche und südöstliche EU-Länder aus der Region zwischen Ostsee, Adria und dem Schwarzen Meer haben sich dort versammelt. Ihr gemeinsames Anliegen: Unabhängiger werden vom russischen Erdgas. Von Polen aus, so die Idee, könnten auch andere Länder mitversorgt werden.

Fracking-Technologie für Erdgas-Förderung in den USA

Aus Sicht der Amerikaner eine interessante Idee. Denn amerikanische Unternehmen fördern seit einigen Jahren wieder Erdgas im eigenen Land. Mit Hilfe der Fracking-Technologie und billigen Krediten. Riesige Mengen, die sie – verschifft als LNG – gerne auf dem europäischen Markt verkaufen würden. Denn hier ist der Preis interessanter als anderswo.
Donald Trump geht es beim Erdgas-Export vor allem um amerikanische Jobs, sagt er. Anderen in Washington geht es um mehr - um Geopolitik.
"Das wird uns einen viel stärkeren Hebel gegenüber Putin und den Russen verschaffen. Um sie bei ihren Aggressionen zurückzudrängen. Die gegen Europa gerichtet sind aber auch gegen die Vereinigten Staaten."
So sieht es zum Beispiel John Hannah vom neokonservativen Think-Tank "Foundation for Defence of Democracy." So sehen es auch viele im Lager der amerikanischen Opposition. Sie wollen die Russen aus dem europäischen Gasmarkt zurückdrangen. Auch mit Hilfe von Sanktionen.
LNG-Gas gilt als "Game Changer", als Spielveränderer im Gasgeschäft. Das Angebot ist groß und wächst weiter. LNG kommt aus dem Nahen Osten, aus Nord- und Westafrika und zunehmend aus den USA. Es ist kurzfristig per Schiff lieferbar. Ohne langfristige Verträge, die bei Pipeline-Gas die Regel sind. Hohe Flexibilität, sowohl bei der Förderung als auch bei der Lieferung.

Der Markt ist überversorgt

Das passt gut zu einem energiepolitischen Ziel der Europäischen Union: Die Erhöhung der Versorgungssicherheit, durch möglichst viele Gasanbieter. 22 Importterminals für das tiefgekühle Flüssiggas gibt es bereits in der EU, weitere sind geplant. Die Furcht vor einer Gas-Abhängigkeit von Russland sei heute unbegründet, meint Kirsten Westphal:
"Es entspricht nicht mehr der Realität, weil wir einen überversorgten Markt haben, weil im Grunde genommen sehr schnell und flexibel auf andere Quellen zurückgegriffen werden kann. Also, wenn Lieferkürzungen aus Russland zu erwarten wären, sehr schnell auf andere Quellen zurückgegriffen werden kann. Weil in Deutschland, in Europa über die LNG-Terminals oder aus Norwegen Gas über die Netze zu bekommen ist."
Ein anderes Ziel der Energie Union: Wettbewerb auf dem Gasmarkt. Dazu soll allen Gasanbietern ein freier Zugang zu den Gasnetzen ermöglicht werden. In Deutschland wurde das bereits umgesetzt. Die Gaskunden können jetzt unter vielen Wettbewerbern und Tarifen wählen. Dank des großen Angebotes sind die Preise auf dem niedrigsten Stand seit zwölf Jahren. Auch Gazprom muß sich dem harten Wettbewerb stellen. Und das mit großen Mengen. Denn das Unternehmen sitzt auf einer gigantischen Gasblase in Nordsibirien. Nord Stream 2 soll sie auf den europäischen Markt bringen. Gazprom-Chef Alexej Miller betont:
"Die neue Pipeline ist der effektivste und umweltfreundlichste Weg, russisches Erdgas nach Europa zu liefern."
Ein Argument, das kaum zu widerlegen ist. Allerdings handele es sich bei den Russen um einen übermächtigen Wettbewerber, sagt Georg Zachmann, vom Bruesseler Think Tank "Bruegel", der auch die Kritiker von Nord Stream 2 berät.
"Die eine Schwierigkeit, die wir gesehen haben, ist: Wenn eben die Infrastruktur für russische Erdgas da ist, ermöglicht es der Gazprom die Preise so zu gestalten, dass sie genau wettbewerbsfähig sind mit jeder anderen Quelle."
Als Beispiel nennt Zachmann das LNG-Terminal in Litauen
"Als der Plan getroffen wurde, das LNG-Terminal fertigzustellen, hat die Gazprom die Gaspreise für Litauen deutlich gesenkt und damit die Wettbewerbsfähigkeit dieses LNG-Terminals zerstört. Insofern muss man sehen, dass Pipeline-Projekte tatsächlich auch eine strategische Bedeutung haben dafür wie sich eigentlich die Marktsituation in einem Markt dann ausspielen kann."
Mit Nord Stream 2 verschaffe sich Gazprom einen gewaltigen strategischen Vorteil auf dem Gasmarkt der Union, warnt Zachmann. Aber die Angst vor einer russischen Marktbeherrschung durch den Bau der Nord Stream 2 ist nicht das einzige Motiv ihrer Gegner. Wie bei den US-Amerikanern mit ihrem Fracking Gas, geht es auch um übergeordnete politische Ziele. Es geht um die Interessen in der Ukraine, sagt EU-Kommissar Cañete.
"Wir brauchen für die EU-Kommission eine starke Verhandlungsposition. Nicht nur zur Anwendung unserer Wettbewerbs-Prinzipien sondern auch wegen der Situation in der Ukrane. Denn wir betrachten die Ukraine als eine stabile und, verlässliche Transitroute. Und wir unterstützen es, dass die Ukraine weiterhin eine Transitroute bleibt, auch in Zukunft."
Roland Götz sagt:
"Nord Stream 2 wird nicht deswegen gebaut, weil man mit den bisherigen Transitkapazitäten in der Ukraine nicht mehr auskommt sondern weil man sie ersetzen will."
Die russische Gazprom möchte ihr Gas künftig per Nord Stream 2 nach Westen leiten. Direkt durch die Ostsee anstatt über Land durch die Ukraine. Dahinter stehe durchaus ein politisches Motiv, urteilt Götz – aber ein geschäftspolitisches. Denn seit 2015 erhält die Ukraine Erdgas für den Eigenbedarf aus der Europäischen Union.
Es ist überwiegend russisches Gas, das durch die Ukraine in den Westen strömt, dort von der EU bezahlt - und anschließend wieder in die Ukraine zurückgepumpt wird. Damit ist das Land bei der eigenen Gasversorgung nicht mehr direkt abhängig von Russland. Aus Sicht von Gazprom sei das ein erhöhtes Geschäftsrisiko, erläutert Götz. Denn die Ukraine könnte nun versuchen, die Transitgebühren für das Gas weiter hochzuschrauben.
"Denn die Ukraine hätte jetzt ein höheres Druck-oder Droh-Potential: da sie nicht mehr von russischem Gas abhängig ist, könnte sie den Transitverhandlungen sehr viel stärker auftreten und Gazprom zu größeren Zugeständnissen zwingen. Auch das ist ein weiterer Grund dafür, warum Gazprom diesen Ukraine Transit möglichst beenden will."

Entkopplung von Gasanbieter und Pipelinebetreiber?

Aus der Perspektive der Europäischen Union sieht das Problem anders aus: Wenn die ukrainische Transit-Route durch die Ostseepipeline Nord Stream 2 ersetzt wird, sagt Bruegel-Experte Zachmann, dann müsste das Gas für die Ukraine von Nordwest-Europa und Deutschland aus in einem großen Umweg über Tschechien und die Slowakei dorthin umgeleitet werden.
"Das würde für die Ukrainer im besten Fall bedeuten, dass sie das Gas deutlich teurer vom Westen einkaufen können. Im schlimmsten Fall würde es bedeuten dass sie es direkt aus Russland beziehen müssen, was wegen der politischen und wirtschaftlichen Geschichte bedeuten könnte, dass die Ukraine sich wieder deutlicher an Moskau annähern müsste."
Eine neue Abhängig der Ukraine von Russland, das will man in Brüssel ebenso vermeiden wie in Washington. Aus westlicher Sicht sei es notwendig, das Pipelinenetz durch die Ukraine zu erhalten, sagt Kirsten Westphal von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
"Wir wollen die Ukraine an den Westen heranführen. Sie soll Teil des europäischen Energiemarktes werden. Da kommen aber schon die Fragezeichen. Die Infrastruktur durch die Ukraine ist alt. (...) Man muss nicht nur modernisieren man muss auch reparieren. Also das ist ein Netz, das fit gemacht werden muss, für den neuen Markt."
Investitionen, die vermutlich viele Milliarden Euro betragen würden. Nur wer sollte dafür aufkommen?
Die EU-Kommission möchte über diese Fragen jetzt direkt mit Moskau verhandeln. Dazu erbittet sie das Mandat der Mitgliedsländer. Man wolle das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union auch für Nord Stream 2 durchsetzen, heißt es aus Brüssel. Also: Entkopplung von Gasanbieter und Pipelinebetreiber. Und Pipelinezugang für andere russische Gaslieferanten. Das wäre für Gazprom das Ende seines bisherigen Exportmonopols.
"Das hat Gazprom, seit vielen Jahren, seit Jahrzehnten immer wieder abgelehnt. Und ist auch nicht von der russischen Regierung gezwungen worden. Ich glaube nicht, dass wegen Nord-Stream seine Geschäftspolitik in dieser Hinsicht total ändern würde, eher würde man das Projekt wahrscheinlich fallen lassen."
Dann hätten die Gegner der Nord Stream 2 Pipeline ihr Ziel erreicht. Allerdings erwägt nun auch ein anderes russisches Unternehmen Erdgas in die Europäische Union zu verkaufen: Der Moskauer Energiekonzern Rosneft. Dort sitzt jetzt ein Mann als Chef im Aufsichtsrat, der auch beim Nord Stream 2 Projekt eine wichtige Rolle spielt: Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder
Noch ist nicht klar, ob die künftige Bundesregierung einem Brüsseler Verhandlungsmandat für Nord-Stream 2 zustimmt, ob sie weiter für die neue Ostseepipeline ist oder jetzt dagegen. Das hängt auch von ihrer Zusammensetzung ab.

Nord Stream 2 ad Acta legen?

Die Grünen, ein möglicher Koalitionspartner, lehnen Nord Stream 2 bisher ab. Gleichzeitig wollen sie das Thema Klimaschutz und Kohleausstieg ganz nach vorne rücken. Für diesen Fall hält Gazprom schon ein weiteres Argument für seine Pipeline parat: Das Erdgas aus Russland sei gut für Kohleausstieg und Klimaschutz, dem dritten Ziel der Energie Union, betont Jens Müller, der Sprecher von Nord-Stream 2.
"Es gibt keinen wettbewerbsfähigeren Lieferanten als Russland, was die Mengen und die Kosten betrifft. Und wenn dieses Gas im Sinne von Substituieren von Kohle eingesetzt wird, ist es die einzige Möglichkeit Klimaziele zu erreichen."
Klimaschutz versus Ukraine? Billiges Russengas versus ökologisch fragwürdiges Fracking-Gas aus Amerika? Geschäftsinteressen versus politische Interessen? Die Lage scheint vertrackt.
Berlin solle im Nord-Stream-2-Konflikt auf Diplomatie setzen und eine Verständigung mit Kritiker-Ländern versuchen, empfiehlt eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik. Man müsse Nord Stream 2 bis auf weiteres ad Acta legen, fordert Georg Zachmann vom Brüsseler Think-Tank Bruegel, schon aus Solidarität mit der, von Russland bedrängten, Ukraine.
"In der Zeit, in der wir versuchen, europäische einheitliche Position gegenüber Russland einzunehmen in außenpolitischen Fragen erscheint es mir ein wenig fragwürdig, dass man so in so einem strategischen energiepolitischen Projekt dann eine auf die sehr kurzfristigen deutschen Wirtschaftsinteressen ausgerichtete Politik fährt."
Besser als die Konfrontation mit Russland sei eine Kooperation, mahnt Klaus von Dohnany. Vor fast 50 Jahren half er die West-Ost-Entspannung in Gang zu setzen – auch mit Hilfe von Erdgasgeschäften.
"Ich glaube, wir wären besser beraten, die gegenseitigen Abhängigkeiten zu stärken, um eine Integration auch mit russische Wirtschaft, mit russischen Absatzmärkten in Westeuropa und so weiter zu schaffen, anstatt zu glauben, dass wenn wir uns abnabeln, wir dieses Russland für uns friedlicher stimmen werden und weniger aggressiv stimmen werden und die Sicherheit in Europa auf diese Weise fördern werden, das glaube ich nicht."
Und Amerika? Birgt womöglich das größte Risiko für Nord-Stream 2: Ein neues US-Gesetz droht europäischen Unternehmen mit Sanktionen bei Energiegeschäften mit Russland. Schon jetzt sorgt das für Verunsicherung: Beim österreichischen Energiekonzern OMV und bei der französischen ENGIE. Dort, so wurde gemeldet, überlege man bereits einen Rückzug aus dem Pipeline-Projekt.

Jedes Projekt sei auch immer politisch

Zurück im Betonummantelungs-Werk am Fährhafen von Sassnitz: Unablässig schaffen LKW neue Stahlröhren heran. Zwei Kilometer Röhren pro Tag werden hier verlegefertig gemacht. Er habe in seinem Leben schon viele Pipelines gebaut, sagt Produktionsleiter Gerard Vogel: In Deutschland, Angola, Mexiko, Brasilien und Togo. Ein politischer Streit, wie bei Nord Stream 2, sei nichts Aussergewöhnliches.
"Jedes Projekt, normalerweise, ob Petroleum- oder Gasleitung, ist immer politisch, immer!"
Um die neue Ostsee-Pipeline sei ihm deshalb auch nicht bange.
"Bis jetzt habe ich alle Projekte zu Ende gekriegt."
Im nächsten Jahr soll die Verlegung der Nord-Stream-2-Pipeline beginnen. Und bis 2019 fertig sein. So plant es Gazprom. Schon möglich, dass ihre vielen tausend Stahlröhren aber noch länger auf Rügen liegen bleiben.
Mehr zum Thema