Exorzismus

Anneliese Michel könnte noch leben

Die Historikerin Petra Ney-Hellmuth: Sie hat an der Universität Würzburg eine Doktorarbeit mit dem Titel "Der Fall Anneliese Michel – Kirche, Justiz, Presse" geschrieben. Aufnahme vom April 2014
Die Historikerin Petra Ney-Hellmuth: Sie hat an der Universität Würzburg eine Doktorarbeit mit dem Titel "Der Fall Anneliese Michel – Kirche, Justiz, Presse" geschrieben. © picture alliance / dpa
Von Ulrich Gineiger · 16.02.2015
Die Studentin Anneliese Michel starb im Juli 1976 an Unterernährung, nachdem ein katholischer Priester wiederholt den so genannten großen Exorzismus an ihr ausgeübt hatte. Eine Historikerin hat die Akten eingesehen und rückt den Fall in ein neues Licht.
Anneliese Michel schreit.
Das Video steht im Internet jedermann zugänglich. Man sieht Pater Renz, ein freundlicher älterer Herr in schwarzer Kutte, der einen Kassettenrecorder eingeschaltet hat. Die Stimme von Anneliese Michel ist kaum mehr zu erkennen. Aufnahmen die während der Teufelsaustreibung in Klingenberg entstanden sind. Der Fall liegt 40 Jahre zurück. Historiker haben ihn nun neu aufgerollt anhand dokumentarischen Materials. Das Video zeigt den Pater, er kommentiert vor laufender Kamera was die Stimme sagt:
Stimme Anneliese Michel und Pater Renz
Drei Dämonen behauptet Pater Renz stecken in der Frau. Dann nimmt das Thema eine interessante Wende. Pater Renz, der als ultrakonservativ galt, fragt den vermeintlichen Teufel, ob es denn gut sei, dass die Menschen nicht mehr an ihn glauben. Ja, sagt der Teufel. Das sei gut. Warum?
Stimme Anneliese Michel, Stimme Pater Renz: Weil der Teufel größere Macht bekommt.
Und so wiederholt der Pater was er aus dem Mund von Anneliese Michel gehört hat und er interpretiert in seinem Sinn:
"Aber für uns ist das ganz gut. Wenn die Leute nicht glauben dass es uns gibt, da können wir wirken nach Herzenslust."
Warum sollte der Teufel so dumm sein, seine Strategie an die große Glocke zu hängen? Hier taucht erstmals die Vermutung auf, dass nicht Satan im Spiel ist, sondern dass hier Kirchenpolitik gemacht wird, denn auch Anneliese Michel, die noch während des Exorzismus verstirbt, entstammt einer ultrakonservativen Familie. Die übrigens den Liberalismus des Zweiten Vatikanischen Konzils mit aller Macht bekämpft. Und das passt alles zusammen.
Die Historikerin hatte Einblick in Gerichts- und Polizeiakten
Wie aber konnte es passieren, dass die junge Frau verhungert ist? Wie konnte die Kirchenleitung die Teufelsaustreibung überhaupt genehmigen? 40 Jahre nach dem Vorfall öffnet das bischöfliche Ordinariat Würzburg sein Archiv. Gerichts- und Polizeiakten, Zeugenvernehmungen, alle Unterlagen standen der Historikerin Petra Nay-Helmut zur Verfügung offene Fragen zu klären. Ihr Fazit, die junge Frau hätte gerettet werden können.
Petra Nay-Helmut: "Also man muss ja davon ausgehen, das sagt einem der gesunde Menschenverstand, wenn man jemand in einer solchen Ausnahmesituation sieht, dass man da ganz klar einen Arzt einschaltet auch die Eltern."
Autor: "Und die Eltern haben aber auch kein Arzt eingeschaltet?"
Petra Nay-Helmut: "Nein, sie sagten ja, sie wäre zunächst in jungen Jahren beim Arzt gewesen, aber das hätte alles nichts gewirkt, die Medikamente hätten nicht angeschlagen und man hätte sich deswegen auf diesen Weg begeben."
Wer war die Studentin Anneliese Michel? Für Petra Nay-Helmut war sie zweifellos psychisch erkrankt.
Petra Nay-Helmut: "Sie war einfach eine junge Frau, sie war psychisch krank und hätte man rechtzeitig eingegriffen, medizinisch, hätte man sie auch retten können. Mit Zwangsernährung rechtzeitig vorher und bei regelmäßiger Einnahme der Medikamente, das besagen auch die ärztlichen Gutachten, hätte sie auch ein normales Leben in diesem Sinne führen können."
Mehrere hundert Menschen wenden sich pro Jahr an die Bistümer
Seit dem Fall Michel werden in Deutschland keine Teufelsaustreibungen mehr genehmigt. Dennoch oder trotzdem kommen jährlich mehrere hundert Menschen auf die Bistümer mit der Behauptung zu, sie seien von Dämonen besessen und wollten geheilt werden. Im Raum München landen diese Menschen bei Pater Jörg Müller, Theologe und Psychotherapeut im Palotinahaus Freising. Was treibt diese Menschen um, die zu ihm kommen?
Pater Jörg Müller: "Angst. Einmal die Angst und dann eben auch die mangelnde Information. Sie bewegen sich oft in Kreisen, die sehr fundamentalistischen … Ja, und die sehen den Teufel gegenwärtiger als Gott. Der Glaube 'Ich bin jetzt besessen' hat ja auch einen Vorteil. Ich bin ein interessanter Fall, andererseits wenn ich Therapie bräuchte, das wäre mir peinlich. Ich müsste ja zugestehen ich wäre psychisch krank, das will ich nicht – auch das kommt hinzu. Das Selbstbildnis, das Selbstwertgefühl, das Gottesbild ist ziemlich schräg."
Diese Menschen, meint er, seien in den meisten Fällen heilbar - allein mit den Werkzeugen der Psychotherapie.