Exkurs am lebendigen Textbeispiel

11.02.2013
Journalismus und Literatur, Wahrheit und Lüge, Fakten und Erfindung: Um diese Begriffspaare dreht sich dieser ungewöhnliche Dialog zwischen John D’Agata und Jim Fingal, in dem es um nicht weniger als die richtige Weltbeschreibung geht.
Das kluge und kenntnisreiche Nachwort endet mit einer Anekdote, die der Kybernetiker Heinz von Förster über Picasso erzählte: "Ein reicher Amerikaner wollte einmal von dem Maler wissen, warum er die Menschen nicht so malt, wie sie sind? Picasso fragte nach: ‚Wie sind denn die Menschen? Können Sie mir ein Beispiel geben?‘ Der Amerikaner holt seine Brieftasche, nimmt ein kleines Foto heraus und sagt: ‚Hier sehen Sie meine Frau, wie sie ist.‘ Picasso nimmt das Bild in die Hand, dreht es herum und meint: ‚Aha, das ist Ihre Frau. So klein ist sie. Und so flach!‘"

Was für Picassos Bilder gilt, schreibt Harald Staun, "gilt auch für gute Texte: Es reicht nicht, wenn sie lügen. Man muss ihnen auch glauben wollen." Aber wo beginnt die Lüge, wo endet die Wahrheit: Um diese Frage dreht sich dieses Buch der beiden amerikanischen Autoren. Der eine ist ein bekannter Essayist, der andere, Jim Fingal, war vor zehn Jahren Praktikant bei der amerikanischen Literaturzeitschrift "Believer", die damals einen Text von John D’Agata drucken wollte - nachdem dieser schon "wegen faktischer Ungenauigkeiten" vom "Harper’s Magazine" abgelehnt worden war. Der Praktikant sollte nun die Fakten überprüfen.

Ausgehend vom Selbstmord eines 16-jährigen Jungen in Las Vegas, der vom höchsten Gebäude, dem "Stratosphere Tower" gesprungen war, entwirft der Autor das, was er einen lyrischen Essay nennt: über die Stadt, die Menschen, die Atmosphäre eines Ortes, in der sich fast jeden Tag ein Mensch umbringt, der vor allem nach kommerziellen Gesetzen funktioniert. "Ich suche hier nach einer Wahrheit, aber nicht zwangsläufig nach Exaktheit."

Journalistische Gesetze, eindeutige Fakten erkennt John D’Agata nicht an, er legt stattdessen die Wahrheit aus, um sie kenntlich zu machen. Wegen dieser – in den Augen des Praktikanten – laxen und ungenauen Haltung entwickelt sich eine jahrelange Grundsatzdebatte, die hier klug und unterhaltsam dokumentiert wird. Jim Fingals journalistisches Credo ist allein der Wahrheit als den nachprüfbaren Fakten verpflichtet. Schon aus dem ersten Satz ergibt sich deswegen eine prinzipielle Auseinandersetzung: "An jenem Tag, an dem der 16 Jahre alte Levi Presley von der Aussichtsplattform des 350 Meter hohen Turmes des Stratosphere Hotels und Casinos in Las Vegas sprang, verbot die Stadtverwaltung vorübergehend in 34 lizensierten Stripteaseclubs der Stadt den Tabledance." Der Praktikant prüft nach, der Name stimmt, das Alter auch, die Höhe des Turms, aber woher hat der Autor die Zahl der Stripteaseclubs? Er fragt nach und recherchiert, er ist ein selbstbewusster Faktenhuber, der schriftstellerische Deutungshoheit nicht gelten lässt.

Die Zahl der Clubs ist nur ein Detail, es geht fast kein Satz durch, der nicht korrigiert, der nicht mit Anmerkungen und Verbesserungsvorschlägen versehen wird. Die Bemerkungen des Praktikanten, die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Männern nimmt weit mehr Raum ein als der Essay selber. Schwarz ist der Originaltext abgedruckt, rot die seitenlangen Kommentare.

Man ist geneigt – und das ist das Intelligente und Spannende an diesem Dialog –, sich auf die Seite des Autors zu schlagen, natürlich, denn sein Essay (den man am Ende unkommentiert nachlesen kann) ist wirklich gut. Andererseits folgt man mit Bewunderung auch immer wieder dem entschiedenen Praktikanten, der die nachprüfbare Wahrheit gegen eine subjektive Interpretation der Wirklichkeit hochhält. Ein spannender Exkurs am lebendigen Textbeispiel und eine Lektion für allzu gutgläubige Leser - ebenso wie für Journalisten und Autoren.

Besprochen von Manuela Reichart

John D’Agata/Jim Fingal: Das kurze Leben der Fakten
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn, mit einem Nachwort von Harald Staun
Hanser Verlag, München 2013
173 Seiten, 19,90 Euro