Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts: Urteile der Karlsruher Richter bleiben bedeutend

Hans-Jürgen Papier im Gespräch mit Marcus Pindur · 28.09.2011
Nach Ansicht des Münchner Rechtsexperten Hans-Jürgen Papier spielen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes eine unvermindert wichtige Rolle. An der Situation ändere sich auch durch die zunehmende Bedeutung des Europäischen Gerichtshofes und der EU-Rechtsprechung nichts.
Marcus Pindur: Es ist der Rettungsanker für Rechtssuchende: Ob höhere Hartz-IV-Sätze, Vorratsdatenspeicherung, Wiedereinführung der Pendlerpauschale, Vertrag von Lissabon, Rechtmäßigkeit des Euro-Rettungsschirms, Einsatz der Bundeswehr im Ausland, Rechtmäßigkeit der Abtreibungsgesetzgebung – über all dies musste im Laufe der Jahrzehnte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entscheiden, und ein Beobachter, der eigentlich sonst eher zum Lamentieren neigt, der hat gesagt, ohne dieses Gericht wäre die Bundesrepublik eine andere Republik, eine Republik, in der das Recht weniger Bedeutung und die Grundrechte weniger Glanz hätten.

Das Bundesverfassungsgericht wird heute 60, und wir sind jetzt verbunden mit dem ehemaligen Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichtes Hans-Jürgen Papier. Guten Morgen, Herr Papier!

Hans-Jürgen Papier: Schönen guten Morgen!

Pindur: Sie waren lange Jahre Richter am Bundesverfassungsgericht. Was war denn Ihrer Ansicht nach das Urteil, das das Leben der Menschen in Deutschland am meisten beeinflusst hat?

Papier: Also wenn Sie danach fragen, dann kann ich eigentlich eine einzige Entscheidung gar nicht so herausstellen. Ich meine, dass es eben zahlreiche für die gesellschaftliche, für die politische Entwicklung dieses Staates und dieser Gesellschaft durchaus äußerst relevante Entscheidungen gibt. Ich kann das also nicht an einer einzelnen festmachen.

Das sind Entscheidungen zum Spannungsverhältnis zwischen Freiheit der Bürger einerseits und Sicherheit der Bürger auf der anderen Seite, Entscheidungen, die gerade nach der neueren Sicherheitsgesetzgebung erfolgten oder ergingen, nach den Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika und auch in Europa. Nach diesen terroristischen Anschlägen hatte ja der Gesetzgeber auch in Deutschland reagiert, er hatte zahlreiche Sicherheitsgesetze neu erlassen oder modifiziert, neue Instrumente vorgesehen wie Onlinedurchsuchungen, Rasterfahndungen polizeilicher Art bis hin zum Abschuss von Passagiermaschinen, die in der Hand von Terroristen sich befanden. Also in all diesen Fällen mussten wesentliche Entscheidungen getroffen werden und das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit in ein, ja, angemessenes, ausbalanciertes Verhältnis gebracht werden.

Pindur: Waren Sie schon mal in der Situation, dass Sie gedacht haben: Das kann ich jetzt gar nicht richtig, das muss eigentlich die Politik regeln?

Papier: Ich möchte mal so sagen: Das Bundesverfassungsgericht war sich immer im Klaren, dass es nicht die politische Gestaltung ersetzen kann, dass es kein Organ der operativen Politik ist, dass es auch kein Moderator in Sachen politischer Streitigkeiten sein kann, sondern dass es eben dazu da ist, die von der Verfassung der politischen Gestaltung gesetzten Grenzen zu definieren, zu konkretisieren und dann eben auch durchzusetzen. Also insofern ist das Gericht natürlich auch ein, wenn Sie so wollen, auch ein politischer Akteur, aber doch anders als die Akteure, die in der operativen Politik tätig sind wie der Gesetzgeber und die Regierung.

Pindur: Aber genau das ist ja der Vorwurf, der oft auch ans Bundesverfassungsgericht geht, es mache zu viel Politik, es schaffe ein Richterrecht. Zum Beispiel das Hartz-IV-Urteil: Da wird ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum begründet – das hat dann qua Richteramt sozusagen einen Grundrechtscharakter bekommen. Muss man solche Fragen nicht wirklich dem Gesetzgeber überlassen, der das von Fall zu Fall und der historischen Situation angemessen regelt?

Papier: Nein, das würde ich nun gerade nicht sagen. Die Herausarbeitung, die Definition dessen, was Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes gewährleistet, wenn er davon spricht, dass der Schutz der Würde des Menschen gewährleistet wird, dass die Menschenwürde unantastbar ist und dass sie zu schützen ist – das ist nun wirklich Aufgabe der Rechtsprechung, Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Und das Gericht hat ja gerade eben nicht gesagt, aus diesem Grundrecht folgt ein bestimmter, gar ziffernmäßig benannter Grundbetrag, Förderbetrag, das ist ja in der Entscheidung dann nicht gesagt worden, sondern beanstandet worden ist ja vor allen Dingen, dass der Gesetzgeber nicht nach nachvollziehbaren, rationalen Kriterien diesen Grundbedarf bestimmt hat.

Pindur: Das Verhältnis zu Europa wird sich ja auch in den nächsten Jahrzehnten weiter entwickeln. Was denken Sie: Wie wird das die Rolle des Verfassungsgerichtes verändern?

Papier: Also wir sind ja schon seit geraumer Zeit in diesem Prozess der Globalisierung und der zunehmenden Europäisierung. Es ist ganz eindeutig: Je mehr auf der Ebene der Europäischen Union geregelt wird, je mehr Rechtssätze dort erlassen werden, desto mehr wird es auch zu Streitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg kommen.

Aber ich meine nicht, dass die Rolle des Bundesverfassungsgerichts auf absehbare Zeit gemindert werden wird. Die Aufgaben sind nicht identisch, wenn ich das Verhältnis von Europäischem Gerichtshof auf der einen Seite in Luxemburg und dem Bundesverfassungsgericht auf der anderen Seite betrachte. Es sind unterschiedliche Aufgabenstellungen, die beide wichtig sind, aber es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es hin und wieder zu Überschneidungen in den Zuständigkeiten kommen könnte, aber ich sehe im Grunde im Verhältnis zum Gerichtshof der Europäischen Union keine besonderen Schwierigkeiten auf uns zukommen.

Pindur: Vielen Dank, der ehemalige Vorsitzende des Bundesverfassungsgerichtes Hans-Jürgen Papier im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur.


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