Europäische Kulturhauptstadt Plowdiw

"Diese Stadt ist eine Reise wert"

Szenischer Panoramablick über die bulgarische Stadt Plowdiw mit einem Berg im Hintergrund
Unter dem Motto "Wir sind alle Farben" feiert sich die Stadt Plowdiw als Europäische Kulturhauptstadt 2019. © Deniz Fuchidzhiev/Unsplash
Jan Koneffke im Gespräch mit Ute Welty · 12.01.2019
Plowdiw ist Europäische Kulturhauptstadt 2019. Seit jeher ist die Stadt multikulturell geprägt, erzählt der Schriftsteller Jan Koneffke, der von den baulichen Reizen der südbulgarischen Stadt schwärmt.
Ute Welty: Bis kurz vor knapp liefen die Vorbereitungen für Plowdiw in Südbulgarien als Europäische Kulturhauptstadt 2019. Das Eröffnungsevent heute findet statt unter dem Motto "Wir sind alle Farben". Überhaupt fühlt sich die Stadt dem Zusammenleben verpflichtet. Die Bevölkerung besteht aus orthodoxen Bulgaren, Katholiken, Protestanten, Türken aus der Zeit des Osmanischen Reiches, Juden, Armeniern und Roma.
Schriftsteller Jan Koneffke hat das Zusammenleben in Plowdiw selbst erfahren, und er hat über seine Zeit dort auch Tagebuch geführt, das dann unter dem Titel "Gulliver in Bulgarien" erschienen ist. Herr Koneffke, wenn wir noch mal einen Moment bleiben bei dem Titel Ihres Tagebuchs von damals – sind Reisende aus Deutschland in Plowdiw also eher Riesen oder eher Zwerge?
Koneffke: Es ging mir bei dem Titel tatsächlich darum, zu zeigen, dass nicht der Reisende eigentlich die Norm zu setzen hat, wenn er in ein Land kommt, in dem Zwerge oder Riesen leben. Sondern dass er der Zwerg oder der Riese ist, der in das Land kommt. Das bezog ich dann auf ganz konkrete Dinge: Dass ich damals in Bulgarien natürlich ein Riese der Kaufkraft war – und das wäre ich auch heute noch – und dass ich, was meine Kenntnisse des Landes und vor allem auch der Sprache anging, ein Zwerg war. Und ich glaube, so sollte man auch immer reisen, ganz egal, wohin es geht.

Eine für Westeuropäer eher unbekannte Stadt

Welty: Was haben Sie gedacht, als Sie hörten, Plowdiw wird europäische Kulturhauptstadt?
Koneffke: Ich hab mich darüber gefreut. Plowdiw ist nicht sehr bekannt. Übrigens, ich habe einen Freund, einen Heidelberger Lyriker, der sehr schön gesagt hat: Plowdiw, das klingt eigentlich wie ein Wassertropfen, der abprallt und zerspringt. Es ist doch ein wunderschöner Name. Die Stadt hat im Lauf ihrer Geschichte übrigens sehr viele Namen gehabt, weil sie ja auch von ganz verschiedenen Völkern regiert wurde. Unter den Römern zum Beispiel hieß sie Trimontium, also eine auf drei Hügeln errichtete Stadt.
Jan Koneffke, aufgenommen am 17.10.2008 , auf der 60. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main.
Der Schriftsteller Jan Koneffke freut sich über die Aufmerksamtkeit, die Plowdiw nun erfährt.© dpa
Ich habe mich darüber gefreut, denn es liegt abseits von für Westeuropäer bekannten Routen. Es ist noch nicht Griechenland, das man ja besser kennt als Tourist. Und es ist nicht mehr zum Beispiel Österreich oder Budapest, die ungarische Hauptstadt. Ich hab mich gefreut, dass es jetzt eine andere Aufmerksamkeit erfährt.

Wie Bulgarien im 19. Jahrhundert unabhängig wurde

Welty: Sie haben es angesprochen: Viele Völker haben in Plowdiw ihre Spuren hinterlassen. Gleichzeitig rühmt sich die Stadt, Zentrum der nationalen Wiedergeburt Bulgariens zu sein. Wie passt das denn zusammen?
Koneffke: Das war für die Bulgaren natürlich äußerst wichtig, dass sie sich Mitte des 19. Jahrhunderts vom, wie sie das heute noch nennen, "türkischen Joch" befreiten. Aus dieser Zeit stammen auch die Gebäude in der Altstadt Plowdiws: Ein großer Teil davon wunderschöne Fachwerkhäuser, großartig bemalt, mit wunderbaren Innenräumen voller Spiegelkommoden, Rauchertischen, Terrassen, Perlmutt-Intarsien, mit Halbmonden, Sternchen, Sonnensymbolen, verzierten Holzdecken und allem möglichen anderen. Das ist auch schon eine Reise wert.
Diese Unabhängigkeit hatte etwas zu tun mit der gesamteuropäischen Entwicklung, aber auch damit, dass die bulgarische Bevölkerung immer reicher wurde. Es gab eine Klasse von Kaufleuten, die immer reicher wurde, denen diese Häuser gehörten. Und das ist ihnen natürlich auch durch das Osmanische Reich ermöglicht worden: Sie lagen auf einer Handelsroute zwischen Istanbul und dem Westen.

Rechtsextreme Tendenzen im Aufschwung

Welty: Inwieweit wird man dem Anspruch gerecht, dass man eben besonders das Zusammenleben betonen möchte?
Koneffke: Das Zusammenleben der Völker oder der verschiedenen Ethnien funktioniert wohl ganz gut. Das ging schon mal schlechter. Denken Sie nur daran, dass noch 1989, im letzten Jahr unter dem Kommunistenführer, Zwangsumsiedelungen der türkischen Bevölkerungsgruppe gab, dass die Namen in bulgarische Namen umgewandelt werden mussten. Das heißt also, dass über diese Völkerschaften eine Art von Identitätszwang verhängt wurde.
Es gibt andere – Sie haben die Armenier, die Juden genannt. Es gibt aber auch zum Beispiel das Volk der Pomaken, das überhaupt niemand kennt. All diese Völkergruppen wurden zu einem bestimmten Zeitpunkt gezwungen, sich zu bulgarisieren. Und es gibt heute natürlich auch rechtsextreme Tendenzen, Parteien, die diesem Spektrum zugehören. Es gibt so einen übersteigerten Nationalismus wie überall in Europa, so eine, ich würde sagen, krampfhafte und zwanghafte Besinnung auf die Identität. Aber, ich glaube, in den letzten Jahren funktionierte dieses Zusammenleben der einzelnen Völkergruppen mit der Mehrheitsbevölkerung ganz gut.

Eine andere Mentalität

Welty: In Bulgarien leben Sie ja inzwischen nicht mehr, sondern vor allem in Rumänien, derzeit umstrittene Ratspräsidentschaft. Vor diesem Hintergrund politischer Differenzen und auch Spannungen: Verschwindet die südosteuropäische Kultur zu Unrecht vom Schirm?
Koneffke: Ein bisschen schon. Ich glaube, es gibt überhaupt ein Problem damit, dass wir Bewohner Westeuropas glauben, dass Osteuropa kulturell, moralisch - wie auch immer - kompatibel sei mit dem Westen. Also in dem Sinne: Es sei der Westen, nur ohne Wohlstand.
Südosteuropa und Osteuropa insgesamt ist aber auch etwas anderes als unsere Kultur. Damit soll nicht gerechtfertigt werden, dass die bulgarischen und rumänischen Gesellschaften durchsetzt sind von Korruption - vor allem natürlich auch an der Spitze. In Bulgarien kommt hinzu, dass es nicht nur eine korrupte politische Klasse gibt, sondern sie auch noch sehr eng verwoben ist mit dem organisierten Verbrechen. Das soll damit nicht gerechtfertigt werden.
Aber diese Gesellschaften sind anders. Die kulturelle Herkunft und Tradition ist anders, die Mentalität ist anders. Ich möchte hier nur ein sehr schönes Beispiel nennen: In Bulgarien gibt es das Sprichwort "Zeit ist nicht Geld". Es ist also genau das Gegenteil von dem, was wir aus dem Westen kennen. Natürlich kann sich eine solche Mentalität schwer behaupten in einer globalisierten Welt, in der Zeit eben doch Geld ist, wenn man an die Finanzmärkte denkt. Aber wir können natürlich etwas daraus lernen. Wenn man in diese Länder kommt, merkt man das auch. Diese Atmosphäre stellt sich her, dass Zeit nicht Geld ist. Und für uns ist das als Korrektiv eine sehr wertvolle Erfahrung.
Jan Koneffke: Zeit ist nicht Geld. Danke schön dafür, und nicht nur dafür. Der Schriftsteller Jan Koneffke über das Zusammenleben in Plowdiw in Bulgarien, eine der beiden Kulturhauptstädte 2019. Die andere ist übrigens Matera in Italien.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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