Europa in der Krise

"Deutschland ist nicht der Hegemon"

Das Bild zeigt eine einsam wirkende Bundeskanzlerin Merkel auf einer Pressekonferenz beim EU-Gipfel im Februar 2016
Der Historiker Timothy Garton Ash findet, die Europäer müssten selbst wollen, dass Europa Lösungen in der Flüchtlingskrise findet. © dpa / picture alliance / Olivier Hoslet
Timothy Garton Ash im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 24.03.2016
Die Flüchtlingskrise könne "der Anfang des Endes der Europäischen Union" sein, warnt der Historiker Timothy Garton Ash. Deutschland spiele zwar generell eine herausragende Rolle – von einer Vorherrschaft in Europa könne man aber nicht sprechen.
Der Historiker Timothy Garton Ash sieht keine deutsche Vorherrschaft in Europa: "Deutschland ist nicht der Hegemon, ist nicht einmal der Kapitän der Fußballmannschaft. Deutschland ist der wichtigste Spieler, sozusagen Zidane - aber man braucht noch die anderen zehn."
Über Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte der Historiker: In der Flüchtlingskrise habe es "unbeabsichtigte Folgen" gegeben - die Kanzlerin habe "nicht ganz vorausgesehen", was kommen werde. "Aber man kann das gar nicht als negative Rolle bezeichnen", zeigte sich Garton Ash überzeugt. Im Gegenteil: "Sie ist de facto die Führungspersönlichkeit Europas."

Versuche nationaler Kontrollen seien "erschütternd"

Allerdings befürchtet Garton Ash, dass die Flüchtlingskrise "der Anfang des Endes der Europäischen Union" sein könnte. Die jüngsten Grenzschließungen und Versuche nationaler Kontrollen seien "erschütternd". Jetzt müssten die Europäer selbst wollen, dass Europa Lösungen finde:
"Kein Europäer kann jetzt bestreiten, dass die Außen- und Sicherheitspolitik von elementarer Bedeutung ist für alle Europäer. Denn die Ursachen liegen doch im Nahen Osten, in den Versäumnissen unserer eigenen Außenpolitik. Ich glaube, es gibt mindestens einen Hoffnungsschimmer, dass wir (…) aus der Flüchtlingskrise die richtige Lehre ziehen - Europa muss zusammenkommen und eine kräftigere, effektivere Außenpolitik machen."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Das Leben auf dem Vulkan, vielleicht wäre das die angemessene Beschreibung für europäische Verhältnisse heute. Brüssel steckt uns in den Knochen, aber Brüssel, der Ort, die europäische Hauptstadt stand auch schon vor den Anschlägen symbolisch für die Krisen, die wir gerade durchleben. Krisen, die dem britischen Historiker und Oxford-Professor Timothy Garton Ash große Sorgen bereiten. Ich habe ihn letzte Woche in Berlin getroffen und ich habe Timothy Garton Ash gefragt: Sind die Krisen, die wir derzeit erleben, tiefer und gefährlicher als frühere?
Timothy Garton Ash: Davon bin ich überzeugt. Und zwar akkumulieren sich diese Krisen. Die Eurokrise ist keinesfalls gelöst, dazu kam die Ukraine-Krise. Es gibt die Frage des Brexit, also das britische Referendum, es gibt überall in Europa die populistischen Parteien rechts und links, und dann noch dazu die Flüchtlingskrise. Und das aggregiert sich zu einer existenziellen Krise des europäischen Projektes. Das ist bei Weitem nicht so klar, dass wir auf eine so große Herausforderung wirklich die richtige Antwort finden.
Frenzel: Wenn Sie sagen existenzielle Krise, heißt das dann auch, Europa könnte an dieser Krise, an diesen Krisen scheitern?
Garton Ash: Europa, Europa. Europa wird es weiter geben als Kontinent. Ja, ich sage es geradeaus, es könnte schlicht und einfach der Anfang des Endes der Europäischen Union sein. Wir schließen die Grenzen, es ist erschütternd, diese ganze Reihe von Grenzschließungen, und wir versuchen, national zu kontrollieren. Und da wird es kritisch für Europa.
Frenzel: Warum? Weil Europa nicht liefert, weil es keine Lösungen liefert? Oder weil die Gemeinsamkeiten vielleicht gar nicht so groß waren, wie wir uns das immer erhofft haben?
Garton Ash: Nein, ich glaube in der Tat, weil Europa nicht liefert. In allen EU-Mitgliedsstaaten wird jedes Jahr systematisch nachgefragt: Ist die EU-Mitgliedschaft gut für ihr Land, finden die das eine gute Sache? Und diese Zahl geht kontinuierlich nach unten, liegt jetzt unter 50 Prozent im Durchschnitt. Und das ist nicht, weil plötzlich alle Euro-Skeptiker sind oder antieuropäisch, sondern weil sie das Gefühl haben, Europa liefert nicht mehr, diese guten Dinge, die die europäische Integration so lange geliefert hat.
Frenzel: Haben Sie – Sie als jemand, der Deutschland gut kennt, der aber natürlich auch beobachten kann, dass sich die Gewichte in Europa verschoben haben –, haben Sie manchmal Sorge um eine neue deutsche Hegemonie?

"Deutschland ist in eine unbequeme Führungsposition gelangt"

Garton Ash: Nein, habe ich nicht. Ich denke schon, dass notgezwungen innerhalb der Währungsunion Deutschland in eine unbequeme Führungsposition gelangt ist. Ich verstehe schon, wenn es auch, sagen wir mal, aus der griechischen Perspektive so aussehen könnte. Aber im Großen und Ganzen kann man gar nicht davon sprechen, dass wir eine deutsche Hegemonie in Europa haben.
Das deutsche Problem ist doch immer gewesen die kritische Größenordnung: etwas zu groß, aber doch zu klein. Also, das Problem liegt eben darin, dass Deutschland das alleine nicht schaffen kann. Deutschland ist nicht der Hegemon, ist nicht einmal der Kapitän der Fußballmannschaft. Deutschland ist der wichtigste Spieler, Zidane, sage ich mal so. Aber man braucht noch die anderen zehn.
Frenzel: Bei Zidane muss ich natürlich an das legendäre Finale denken und das bringt mich auf die Frage: Spielt denn Deutschland dieses Spiel fair? Und dann sind wir bei der Kanzlerin. Haben Sie den Eindruck, dass die Kanzlerin eine positive Rolle gerade wahrnimmt in Europa?
Garton Ash: Absolut, kein Zweifel. Sie ist de facto die Führungspersönlichkeit Europas. Und sie hat in der Eurokrise natürlich zu lange gezögert, sie hat eine hervorragende Rolle in der Ukraine-Krise gespielt, sie versucht immer, zusammenzubringen. Und bei der Flüchtlingskrise ist ja doch klar, dass es unbeabsichtigte Folgen gegeben hat, dass sie nicht ganz vorausgesehen hat, was darauf alles kommt. Aber man kann das gar nicht als negative Rolle bezeichnen.
Frenzel: Die Frage an Sie als Historiker: Wir haben ja die großen Europäer, wir haben die Gründungsväter, wir haben dann in den 80er-Jahren Helmut Kohl von der deutschen Seite, Francois Mitterrand, wir haben die Versuche, das in den 90er-Jahren aufzunehmen, immerhin noch die Versuche, eine europäische Verfassung zu schreiben. Ich bin jetzt wieder bei dem Begriff der Krise: Die politische Elite – ist es ihre Aufgabe jetzt, eigentlich nur Krise zu meistern, oder hätten sie auch die Chance zu bauen, hätten sie Chance, diese Europa zu bauen?

"Ich bin ja eigentlich guter Hoffnung bei dem britischen Referendum"

Garton Ash: Ich möchte Ihnen vielleicht mit einem berühmten Zitat aus Das Leben des Galilei von Bertold Brecht antworten: Unglücklich das Land, das keine Helden hat; unglücklich das Land, das Helden nötig hat. Und Deutschland und auch andere europäische Länder haben jetzt ein paar Jahre lang wirklich das Glück gehabt, Helden nicht nötig zu haben. Und ich glaube, der Begriff des Helden ist auch ziemlich problematisch. Man beklagt sich immer wieder über die Qualität der Führung. Ich bin keinesfalls überzeugt, dass die Qualität der politischen Führung, sagen wir mal, der 70er-Jahre so viel besser war als in den 90er-Jahren oder heute. Man kann es genau umdrehen und sich fragen: Wo bleibt das Volk?
Frenzel: Wenn wir mal bei Europa bleiben und der Frage, wie man aus dieser Krise herauskommen kann: Sie sind natürlich Historiker, Sie sind eigentlich nicht dafür zuständig, diese Blick nach vorne zu wagen. Aber nichtsdestotrotz möchte ich Sie fragen: Wie kommt Europa zusammen?
Garton Ash: Wir müssen das erst mal wollen. Die Europäer müssen das wollen, dass Europa Lösungen findet. Wenn die Europäer – wir – das nicht wollen, dann findet es nicht statt. Dann muss es ja konkret werden. Ich bin ja eigentlich guter Hoffnung bei dem britischen Referendum. Ich glaube, Großbritannien wird wahrscheinlich – es ist nicht sicher, aber wahrscheinlich – drin bleiben, und das wäre schon ein sehr positives Signal, dass gerade in einer großen europäischen Krise ein sehr euroskeptisches Land sich doch entscheidet, drin zu bleiben. Es hat etwas zu bedeuten. Bei der Eurokrise bin ich skeptischer, bei der Flüchtlingskrise sehen wir, und das ist auch was Positives: Kein Europäer kann jetzt bestreiten, dass die Außen- und Sicherheitspolitik von elementarer Bedeutung ist für alle Europäer. Denn die Ursachen liegen doch im Nahen Osten, in den Versäumnissen unserer eigenen Außenpolitik. Also, ich glaube, es gibt zumindest einen Hoffnungsschimmer, dass wir aus dieser, gerade der Flüchtlingskrise die richtige Lehre ziehen: Europa muss zusammenkommen und eine kräftigere, effektivere Außenpolitik machen.
Frenzel: Timothy Garton Ash, herzlichen Dank für das Gespräch!
Garton Ash: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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