EU-Flüchtlingspolitik

"Gut geregelte Migration ist der stärkste Entwicklungsmotor"

Eine Flüchtlingsfamilie am 17. April 2015 am Hafen von Piraeus nahe der griechischen Hauptstadt Athen
Immer mehr Menschen streben in die EU - auf der Flucht vor Verfolgung oder auf der Suche nach einem besseren Leben © afp / Aris Messinis
Steffen Angenendt (SWP) im Gespräch mit Nana Brink · 22.04.2015
Nach dem jüngsten Flüchtlingsdrama im Mittelmeer fordert der Politikwissenschaftler Steffen Angenendt mehr Programme für eine legale Arbeitsmigration. Das sei das "Optimum für alle Beteiligten" - auch für die deutsche Wirtschaft.
Mehr als 800 Todesopfer beim jüngsten Flüchtlingsdrama im Mittelmeer haben die Politik aufgeschreckt: Bei einem Sondergipfel am Donnerstag wollen die Staats- und Regierungschefs über Konsequenzen aus der Tragödie beraten. Der Politikwissenschaftler Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) plädiert für mehr und bessere Programme für legale Arbeitsmigration. Er sei sich sicher, dass dadurch die Zahl der illegalen Einreiseversuche reduziert werden könnte.
Absicherung gegen Lohndumping und Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt
Zwar habe Deutschland inzwischen von allen Industriestaaten eines der liberalsten Systeme für die Zuwanderung von Arbeitsmigranten, sagt Angenendt. Allerdings sei es kleinen und mittleren Unternehmen, die Fachkräfte brauchten, oft nicht bekannt, dass sie diese inzwischen relativ leicht im Ausland anwerben könnten. Außerdem müssten die Migranten auch die Gelegenheit bekommen, ihr "Migrationsprojekt" tatsächlich zu erfüllen und dürften nicht vorher zurückgeschickt werden.
"Es käme eben darauf an, gut geregelte Programme zu machen, in denen sichergestellt ist, dass es kein Lohndumping gibt, dass keine Einheimischen hier vertrieben werden oder verdrängt werden", so der Migrationsexperte. Überdies müsste man Migranten freistellen, wann sie zurückkehren. "Das würde das Optimum für alle Beteiligten, für uns, auch für unsere Arbeitgeber, für unsere Wirtschaft, für die Heimatländer und für die Migrantinnen und Migranten selbst dann schaffen." Inzwischen gebe es keinen Zweifel mehr daran, dass "gut geregelte Migration" für Entwicklungsländer der stärkste Entwicklungsmotor sei, betont Angenendt.

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Die 28 geretteten Flüchtlinge aus dem Boot, das letztes Wochenende gekentert ist und 800 Menschen in den Tod gerissen hat, sie kamen aus Afrika, aus welchen Staaten genau, das ist immer schwierig zu ermitteln, und an den libyschen Küsten warten auch viele Flüchtlinge aus dem Irak oder aus Syrien. So unterschiedlich wie ihre Herkunft sind auch die Beweggründe, die sie zwingen, sich in die Hände von Schlepperbanden zu begeben. Und für uns in Europa ist es aber wichtig zu verstehen, wer da kommt und wie wir ihnen helfen können und ob wir vielleicht nicht auch davon profitieren, dass sie kommen. Steffen Angenendt beschäftigt sich bei der Stiftung Wissenschaft und Politik – die berät ja unter anderem auch die Bundesregierung – schon seit Jahren mit Fragen der Migration. Ich grüße Sie!
Steffen Angenendt: Guten Tag!
Brink: Wer kommt über das Mittelmeer?
Angenendt: Vor allem haben wir gemischte Zuwanderung. In den Booten, die anlanden oder die aus Seenot gerettet werden, sitzen zum einen Flüchtlinge, also Menschen, die vertrieben sind, die fliehen mussten, vor Krieg, vor Bürgerkrieg, vor Gewalt. Und es sitzen aber auch Migranten drin, also Menschen, die für sich, für ihre Familien ein besseres Leben erhoffen, wenn sie nach Europa kommen. Das ist das große Problem, diese gemischten Wanderung. Und wir sind verpflichtet, völkerrechtlich, europarechtlich, aber auch verfassungsrechtlich und natürlich auch moralisch, diese Gruppen zu unterscheiden und denjenigen, die wirklich verfolgt sind, eben auch Schutz zu gewähren. Diejenigen, die nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, das sind dann eben per Definition Migranten, und ob die aufgenommen werden oder nicht, ist Entscheidung des jeweiligen Staates, in den sie kommen. Dazu bestehen also keine rechtlichen Verpflichtungen, keine besonderen Schutzverpflichtungen. Das entscheidet jeder Staat selbst im Rahmen seiner Einwanderungspolitik.
Auch viele Asiaten wollen übers Mittelmeer in die EU
Brink: Aber Sie haben ja zu Recht gesagt, es gibt erst mal die moralische Verpflichtung, sie zu retten, um dann überhaupt einschätzen zu können, wer da kommt?
Angenendt: Das ist natürlich genau das Dilemma im Mittelmeer zurzeit, dass wir natürlich nicht mit ansehen können und auch nicht mit ansehen wollen, wie Menschen da ertrinken.
Brink: Hat sich denn die Situation in den letzten Jahren aufgrund der aktuellen Krisen in Afrika oder in Syrien verändert?
Angenendt: Ja, was man feststellen kann, ist, dass wir schon seit einigen Jahren Menschen haben, die aus weiter entfernten Weltgebieten kommen, also auch aus Asien – Bangladesch hatten wir relativ viele –, die eben dann über Afrika, über Nordafrika versuchen, in die EU zu gelangen. Auch da sind Flüchtlinge drunter, aber auch Migranten. Und wir haben das gleiche eben auch fürs südliche Afrika. Auch da sind Menschen unterwegs. Vor allem, sehr dramatisch immer, aus dem Horn von Afrika, aus Somalia. Menschen, die sich wirklich auf eine unglaublich gefährliche, lebensbedrohliche Reise machen, bei der eigentlich das Mittelmeer nur noch die letzte Station ist. Da passieren vorher schon schrecklichste Sachen. Letztlich reagieren diese Wanderungen, das sehen wir an der Zusammensetzung, dann eben auch auf die Flüchtlingskrisen und auf die Konflikte, auf die Bürgerkriege. Wenn irgendwo ein Bürgerkrieg ausbricht, dann nimmt die Zahl der Menschen aus diesen Gebieten zu.
Brink: Sie haben das Horn von Afrika erwähnt. Eritrea, Somalia, Eritrea, seit 25 Jahren existiert da ja in Somalia quasi kein Staat mehr. Und nun wird ja immer wieder argumentiert, man müsse die Situation in den Heimatländern verbessern, dann würden sich weniger Menschen auf den Weg machen. Stimmt das?
Angenendt: Ich finde eben, dass in der politischen Debatte da wirklich viel aneinander vorbei geredet wird, weil die einen reden über geregelte Migration, die freiwillig stattfindet, also die Arbeitsmigration, und die anderen reden über Fluchtbewegungen oder über illegale Wanderung. Und die sind höchst unterschiedlich auch in ihren Entwicklungswirkungen, auch was man machen kann im Umgang mit diesen Wanderungen. Es gibt inzwischen keinen Zweifel daran, dass geregelte Migration, gut geregelte Migration, bei der die Rechte der Migranten eingehalten werden, bei der es kein Lohndumping gibt und so weiter, bei der keine Einheimischen verdrängt werden, dass das entwicklungsfördernd ist, und dass das der stärkste Entwicklungsmotor ist, den Entwicklungsländer eigentlich haben. Das sehen die inzwischen auch selbst so. Die Philippinen zum Beispiel, die sehr viele Krankenschwestern ausbilden, möchten eben auch, dass ein Teil dieser Krankenschwestern in Industriestaaten arbeiten kann, legal, und setzen auch sehr viel Energie darein, auch außerpolitische Energie, da vernünftige Verhältnisse zu finden.
Deutschland hat "eines der liberalsten Zuwanderungssysteme"
Migration ist ein Entwicklungstreiber, und zwar eigentlich der stärkste, den wir haben. Nur, um eine Zahl zu nennen: Die Geldtransfers, die Migrantinnen und Migranten in ihre Heimat überweisen, sind inzwischen fast das Vierfache der gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe. Das zeigt schon, was das für eine Entwicklungskraft ist. Aber das bezieht sich eben in erster Linie auf geregelte und freiwillige Migration. Das sieht ganz anders aus natürlich bei Fluchtbewegungen, bei Zwangswanderungen, bei ungeregelten Wanderungen. Da gibt es diese Entwicklungswirkung nicht, und da sollte eben tatsächlich Entwicklungszusammenarbeit alles tun, was möglich ist, um die Ursachen solcher Zwangswanderungen zu verhindern. Das macht Sinn.
Brink: Nun haben wir ja unterschieden zwischen Asylsuchenden, das sind ja die Menschen, die aus Syrien kommen, Somalia, auch Eritrea, kann man wohl sagen, und Migranten, die aus anderen Gründen kommen. Wie kann man dann also das Letztere steuern in Europa? Durch ein neues Zuwanderungsgesetz?
Angenendt: Ich meine, das ist ein politischer Streit. Es gibt ja bei uns viele, die sagen, das brauchen wir gar nicht, weil wir die Regeln eigentlich schon haben. Und es stimmt auch, würde ich sagen, wir haben, das sagt jedenfalls die OECD, Deutschland hat inzwischen von allen Industriestaaten eines der liberalsten Systeme für die Zuwanderung von Arbeitsmigranten. Das Problem ist ein bisschen, dass das relativ wenig bekannt ist. Wenn Sie versuchen, ein Visum zu bekommen für Deutschland, ein Touristenvisum, um sich zum Beispiel ein bisschen das Land anzugucken, um zu gucken, ob das als Arbeitsort in Frage kommt, werden Sie Schwierigkeiten haben, wenn Sie aus bestimmten Entwicklungsländern kommen. Das zeigt sich auch daran, dass zum Beispiel kleine und mittelständische Unternehmen, die dringend Fachkräfte brauchen, dass denen einfach nicht bewusst ist, dass sie inzwischen relativ leicht Fachkräfte anwerben können im Ausland. Und es gibt sogar die Möglichkeit für jemanden, der qualifiziert ist, zur Jobsuche nach Deutschland zu kommen. Das sind alles gute Regeln, da sind wir wirklich weit an der Spitze der Migrationspolitik. Das Problem ist eben nur, dass es zu wenig bekannt ist. Und da muss mehr passieren, und es müssen mehr Programme aufgelegt werden für eine legale Arbeitsmigration, die gut geregelt ist. Und ich bin mir sicher, dass das die Zahl der illegalen Einreiseversuche reduzieren wird.
Brink: Das heißt, es wäre eigentlich für den nigerianischen Mechaniker durchaus möglich, nach Bayern zu gehen. Aber die wissen nicht voneinander, also das Unternehmen weiß nicht von ihm und er nicht von dem Unternehmen. Das ist doch das Problem?
Angenendt: Davon würde ich ausgehen, dass das so ist, ja. Das hängt natürlich von seinen Qualifikationen ab. Dieses Jobsuche-Visum ist tatsächlich dann für höhere Qualifikationen gedacht, aber es bestehen eben viele Möglichkeiten, nur die müssen besser, deutlicher gemacht werden, also nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland, denn, wenn viele mittelständische Unternehmer, die gern einstellen würden, das nicht tun, weil ihnen die Wege nicht bekannt sind, weil ihnen das zu kompliziert vorkommt und so, dann passiert natürlich nichts.
Zirkuläre Migration aus entwicklungspolitischer Sicht "sinnvoll"
Brink: Aber es ist klar, dass wir Migration in Deutschland brauchen, ich glaube, das hat sich jetzt als Weisheit schon durchgesetzt. Viel diskutiert wird ja auch die zirkuläre Migration. Also, jemand kommt zu uns, bleibt für eine Zeit, zum Beispiel der Facharbeiter, von dem wir gesprochen haben, und geht dann wieder zurück. Ist das sinnvoll, und wenn ja, wie bekommen wir das hin?
Angenendt: Theoretisch gesehen, ja, es ist sinnvoll aus entwicklungspolitischer Sicht, weil die Idee dann ist, dass jemand hier nach Deutschland kommt, einige Jahre hier arbeitet, Erfahrungen macht, die im Heimatland sehr gut verwertbar wären. Wir haben also solche Projekte auch gemacht zum Beispiel mit Tunesien. Die finden dann auch entsprechend gute Jobs im Heimatland. Theoretisch hört sich das alles gut an, aber in der Praxis ist es sehr viel schwieriger, weil es eigentlich darauf ankommt, dass die Menschen ihre Migrationsprojekte, das, was sie eigentlich beabsichtigen mit der Migration, tatsächlich auch erfüllen können. Und jeder Einschnitt, der dann kommt, meinetwegen nach drei oder nach vier Jahren, wo Menschen dann zurückgeschickt werden, weil einfach diese Zeitfrist abgelaufen ist, macht keinen Sinn. Dann sind die Migrationsprojekte oft nicht abgeschlossen, die Leute haben nicht genug gespart und sind dann mehr oder weniger gezwungen, zurückzugehen. Das ist entwicklungspolitisch unter dem Strich falsch. Es käme eben darauf an, gut geregelte Programme zu machen, in denen sichergestellt ist, dass es kein Lohndumping gibt, dass keine Einheimischen hier vertrieben werden oder verdrängt werden, dass die Recht der Migranten eingehalten werden. Und dann müsste man ihnen freistellen, wann sie zurückkehren. Das würde das Optimum für alle Beteiligten, auch für uns, auch für unsere Arbeitgeber, für unsere Wirtschaft, für die Heimatländer und für die Migrantinnen und Migranten selbst dann schaffen.
Brink: Steffen Angenendt, Migrationsforscher bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Danke für das Gespräch!
Angenendt: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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