EU-Flüchtlingspolitik

"Das Mittelmeer ist ein Massengrab"

Gerettete Flüchtlinge des Bootsunglücks vom 19.4.2015
Gerettete Flüchtlinge des Bootsunglücks vom 19.4.2015 © dpa /EPA/ALESSANDRO DI MEO
Rebecca Harms im Gespräch mit Nana Brink · 24.04.2015
Die grüne Europa-Abgeordnete Rebecca Harms beklagt, dass beim EU-Sondergipfel ein Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik ausgeblieben ist. Abwehr und Grenzsicherung seien die falsche Orientierung.
Sie habe den Eindruck, dass weiterhin die Abwehr von Flüchtlingen das erste Ziel bleibe, sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament, Rebecca Harms, im Deutschlandradio Kultur. Dabei würden sich im Sommer noch mehr Menschen auf die Fahrt über das Mittelmeer begeben. Man habe versäumt, eine Mission zu schaffen, die jetzt in der Lage sei, Menschen aus Seenot zu retten.
Mehr Geld für Frontex ändert wenig
"Frontex ist eine Organisation, die ist zur Grenzsicherung und zur Flüchtlingsabwehr orientiert", sagte Harms. Mehr Geld für Frontex und das Grenzschutzprogramm Triton bedeute nicht automatisch, dass sich die ganze Orientierung der Organisation ändere. "Ich bezweifele sehr stark, auch wegen anderer Punkte in den gestrigen Vereinbarungen, dass es einen Paradigmenwechsel geben wird in dieser Strategie auf dem Mittelmeer." Die geplante Ausweitung des Einsatzgebietes sei mit den vorhandenen Mitteln nicht zu verwirklichen.
Klare Regeln für Einwanderung nötig
"Das Mittelmeer ist ein Massengrab", sagte Harms. Sie wünsche sich, dass die EU endlich verstehe, dass es nicht helfe, Flüchtlinge abzuwehren und abzuschrecken. Stattdessen seien klare Regeln zur Einwanderung und für die Asylverfahren nötig. "Das ist dann als Schritt hinter der Seenotrettung unbedingt erforderlich", sagte die grüne Politikerin. "Denn sonst ist diese Flüchtlingspolitik die alte." Sie habe sich eingebildet, dass die Trauer und das Erschrecken über das Ertrinken von mehr als tausend Menschen in einer Woche im Mittelmeer zur Einsicht führe. "Und wieder hat man gestern bei diesem Sondergipfel gesehen, dass es diese Einsicht, dass die Europäische Union eine ganz andere Einwanderungspolitik machen muss, dass es diese Einsicht überhaupt nicht gibt."
Debatte im EU-Parlament über Haushalts-Blockade
Im EU-Parlament werde jetzt diskutiert, ob die Abgeordneten versuchen werden, Druck auf die EU-Kommission auszuüben, in dem sie den Haushalt nicht verabschieden. "Letztlich ist es so, dass wir uns da entscheiden müssen, ob wir das machen oder nicht", sagte Harms. Aber das Parlament könne diesen "großen Paradigmenwechsel" in der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik nicht gegen die EU-Mitgliedsstaaten durchsetzen.

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Wir tun etwas. Das sollte das Signal sein, das vom gestrigen EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs ausgehen sollte. Auf der Agenda standen ja schon seit Tagen die wesentlichen Punkte Seenotrettung, Verfolgung der Schlepperbanden und Verteilung der Flüchtlinge. Auf eine Verdreifachung der Mittel für Triton, also zur Seenotrettung, und eine Veränderung des Mandats konnte man sich ja einigen, nicht aber auf eine Verteilung der Flüchtlinge. Und wir wollen und nun mal die Ergebnisse genauer ansehen, und zwar mit der Vorsitzenden der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament, Rebecca Harms. Einen guten Morgen, Frau Harms!
Rebecca Harms: Guten Morgen!
Brink: Wie befriedigend sind denn die Ergebnisse des Gipfels aus Ihrer Sicht? Fangen wir doch mit der Seenotrettung an. Es soll ja immerhin eine Verdreifachung geben und damit wäre das ja fast so viel wie Mare Nostrum, also das ursprüngliche Mandat ja einmal zur Verfügung hatte. Sind sie zufrieden?
Harms: Ich bin damit überhaupt nicht zufrieden. Ich glaube, man hätte für diese Ergebnisse keinen Sondergipfel gebraucht, weil in der Tendenz sehen wir, dass die Programme der Europäischen Union auf dem Mittelmeer mehr vom Gleichen bedeuten, weitgehend. Frontex ist eine Organisation, die ist zur Grenzsicherung und zur Flüchtlingsabwehr orientiert, und mehr Mittel für Triton und Frontex bedeutet nicht automatisch, dass tatsächlich die ganze Orientierung dieser Organisation sich verändert. Ich bezweifle sehr stark auch wegen anderer Punkte in den gestrigen Vereinbarungen, dass es einen Paradigmenwechsel geben wird in dieser Strategie auf dem Mittelmeer. Ich hab den Eindruck, dass weiterhin die Abwehr der Flüchtlinge das erste Ziel ist und nicht das, was in diesem kommenden Frühjahr und Sommer so wichtig ist, weil mehr Menschen auf diese Fahrt übers Mittelmeer gehen werden, das wissen wir. Es ist nicht die Orientierung gesetzt worden, in erster Linie eine Mission zu schaffen, die jetzt in der Lage ist, Menschen aus Seenot zu retten.
Brink: Darf ich da einhaken, denn man hat ja nicht nur beschlossen, die Mittel für Triton, das ist ja, wie Sie sagten, eine Operation von Frontex zur Grenzsicherung, aber man auch gesagt, man will über eine Ausweitung des Einsatzgebietes, also über die 30 Seemeilen hinaus sprechen und sich darauf einigen. Das müsste doch eigentlich in Ihrem Sinne sein?
Harms: Dafür – ich meine, wir haben weniger Geld insgesamt als wir für Mare Nostrum veranschlagt hatten, als für Mare Nostrum angesetzt war. Gerade, wenn das Gebiet noch ausgeweitet wird, dann kann man das nicht mit weniger Mitteln machen. Man muss das einfach klären. Wenn das so sein soll, dass Frontex ganz anders operiert als bisher, und ich beziehe mich nicht auf irgendwelche Erfindungen, sondern auf das, was der Frontex-Chef selber über die Orientierung seines Mandates sagt, wenn man das will, dass das alles geändert wird, dann muss man auch dieses geänderte Mandat verankern.
Keine Einsicht in eine andere Einwanderungspolitik
Brink: Sie haben gesagt, Sie haben keinen Paradigmenwechsel erkennen können gestern. In welcher Beziehung meinen Sie das?
Harms: Na ja, das was man sich ja eigentlich wünscht, ist, dass aus diesen Katastrophen auf dem Mittelmeer, bei denen ja Tausende inzwischen zu Tode gekommen sind, das Mittelmeer ist ein Massengrab im Prinzip. Man wünscht sich doch, dass die Europäische Union endlich versteht, dass in solchen Situationen es nicht hilft, wenn man Menschen abwehrt, abschreckt, sondern wenn man klare Regeln zur Einwanderung und gute Möglichkeiten für die Erlangung von politischem Asyl schafft. Das ist dann als Schritt hinter der Seenotrettung unbedingt erforderlich, weil sonst ist doch diese Flüchtlingspolitik die alte.
Und ich hab wirklich mir eingebildet, dass die Trauer und das Erschrecken, das offenkundig wurde, nachdem dann in einer Woche über tausend Menschen zu Tode gekommen sind auf dem Mittelmeer, dass das wirklich zur Einsicht führt. Und wieder hat man gestern bei diesem Sondergipfel gesehen, dass es diese Einsicht, dass die Europäische Union eine ganz andere Einwanderungspolitik machen muss, dass es diese Einsicht überhaupt nicht gibt.
Brink: Na ja, vielleicht gibt es die Einsicht bei einigen, aber kann es sein, dass man sich nicht einig ist? Es gibt ja ganz unterschiedliche Positionen dazu, also auch zur Interpretation sozusagen dieser Seenotrettung. Die einen sagen ja, das ist in Ordnung, die anderen sagen, und das war ja auch eine lange Position des deutschen Innenministers, je mehr Boote und je mehr wir das unterstützen, desto mehr unterstützen wir auch die Schlepperorganisationen. Das ist das andere Argument.
Harms: Ja, die Schlepperorganisationen leben ja gerade davon, dass die Europäische Union die Menschen in die Illegalität treibt, weil sie keine legalen Einreisemöglichkeiten in die Europäische Union schafft. Das ist eine lange Erfahrung. Und ich glaube, dass wirklich das auch noch mal belegt worden ist in den Katastrophen der letzten Wochen. Aber von der Uneinigkeit, davon kann man wirklich sprechen, aber man darf es nicht dabei belassen. Der Auftritt von David Cameron gestern war natürlich einerseits ganz leicht zu erklären durch diese Wahlkampfsituation, in der er in seinem eigenen Land steht.
Aber ob man sich mit solchen Erklärungen zufrieden geben darf, also ob Wahlkampfsituationen wirklich die Rechtfertigung dafür sein dürfen, dass weiter Menschen so behandelt werden, wie sie von der EU behandelt werden in ihrer Not – die Europäische Union in vielen, vielen Ländern braucht Einwanderung. Das ist nicht nur in Deutschland der Fall. Das können Sie immer wieder hören von Vertretern der Wirtschaft, und daraus müssen wir jetzt etwas machen. Wir können nicht warten auf eine Situation, in der wir uns die Einwanderer dann irgendwie alle aussuchen können.
Große Staaten müssen mehr Flüchtlinge aufnehmen
Brink: Aber das wir heißt ja auch, wir zum Beispiel im Europäischen Parlament, da gibt es ja eine Gruppe, die gesagt hat, okay, wenn ihr euch nicht einigt auf der Ebene der Regierungschefs, dann versuchen wir, das zu tun, was wir können, nämlich Druck auszuüben. Das können wir zum Beispiel über den Haushalt tun. Das hat auch Parlamentspräsident Martin Schulz ja gestern angedeutet. Das heißt, wir können die Kommission unter Druck setzen, indem wir sagen, wir verabschieden den Haushalt nicht. Ist das ein Mittel?
Harms: Das ist ein Druckmittel, über das wir jetzt unter den Abgeordneten des Europäischen Parlaments reden. Letztlich ist es so, dass wir uns da entscheiden müssen, ob wir das machen oder nicht. Und trotzdem bleibt es natürlich noch so, dass wir ganz gegen die Mitgliedsstaaten und ihre Regierungen diesen großen Paradigmenwechsel in der Flüchtlings- und Asyl- und Einwanderungspolitik nicht durchsetzen können.
Brink: Das wollte ich gerade sagen.
Harms: Dass da überhaupt mal drüber geredet wird, dass wir zu anderen Konsequenzen auch bereit sein müssen, also dass man die Trauer und die Schweigeminuten, die wir ja in schöner Regelmäßigkeit inzwischen abhalten, dass wir die auch mal mit anderen Entschlüssen auf unserer Seite unterlegen. Das ist wirklich etwas, was bei uns im Moment von vielen besprochen wird.
Brink: Das heißt, Sie sagen, es muss eine neue Einwanderungspolitik geben, eine europäische. Das ist jetzt das Thema der Stunde.
Harms: Man muss – wenn man das nicht europäisch regeln kann, dann müssen eben einzelne Staaten, die großen Staaten, die auch jetzt schon mehr Flüchtlinge aufnehmen, die müssen da vorangehen. Wir müssen legale Einreisemöglichkeiten schaffen, die Menschen müssen gute Möglichkeiten, müssen Möglichkeiten bekommen, Asylanträge ordentlich zu stellen. Sie müssen eine Chance haben, aus der humanitären Not – in vielen Ländern ist die ja höllisch – sie müssen sich aus dieser humanitären Not zu uns retten können. Wir müssen dann aber in den europäischen Ländern auch sofort anfangen, sie in Anführungsstrichen "zu integrieren". Wir müssen wirklich gute Sprachkurse anbieten, wir müssen Ausbildungsmöglichkeiten anbieten, wir müssen das tun, was man mit Integration eigentlich verbindet, wenn man sie ernst meint. Und wir dürfen sie nicht immer so behandeln wie Störenfriede auf Zeit.
Brink: Die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament, Rebecca Harms. Danke für das Gespräch!
Harms: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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