EU-Flüchtlingskrise

Frontex-Direktor weist Vorwürfe zurück

Fabrice Leggeri, Vorstand der Europäischen Grenzschutzbehörde FRONTEX bei einer Pressekonferenz am 21.05.2015 in Warschau.
Der Direktor der Grenzschutzbehörde Frontex sieht die internationale Gemeinschaft in der Pflicht, die Ursachen der Flucht zu bekämpfen © AFP / WOJTEK RADWANSKI
Fabrice Leggeri im Gespräch mit Dieter Kassel  · 19.04.2016
Im Mittelmeer sind wieder einige hundert Flüchtlinge ertrunken, beim Versuch, nach Europa zu kommen. Dass die Grenzschutzagentur Frontex hier versagt hat, weist deren Direktor Fabrice Leggeri zurück. Frontex sei nicht dafür zuständig, Migranten auf dem Weg nach Europa abzuhalten oder abzuschrecken.
Die EU könne der libyschen Regierung helfen, selbst eine Küstenwache aufzubauen, um zukünftig Tragödien wie gestern im Mittelmeer zu verhindern, sagte Leggeri im Deutschlandradio Kultur. Die beste Lösung, um dass Ertrinken von Migranten zu vermeiden, sei, dass sie nicht Opfer von Schleppern und kriminellen Netzwerken würden. Es werde viel Geld damit verdient, dass Schlepper den Migranten etwas vorlügen.

Die Agentur hat 2015 mehr als 60.000 Menschen gerettet

"Letztes Jahr in 2015 hat Frontex ungefähr 60.000 Menschen zwischen Libyen und Italien gerettet", sagte Leggeri. Zwischen der Türkei und Griechenland seien es im gleichen Zeitraum fast hundert Menschen gewesen.
Der Direktor widersprach dem Vorwurf, dass Frontex am Montag angesichts von einigen hundert ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer versagt habe. "Aber natürlich hat es gestern eine große Tragödie in Ägypten gegeben", sagte er.
Leggeri verwies auf die unterschiedlichen Gründe, warum Menschen vor Wirtschaftskrisen und Krieg auf der Flucht seien. Es sei Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, diese Ursachen zu bekämpfen.

Frontex ist nicht dafür da, Flüchtlinge abzuschrecken

"Frontex hat die Aufgabe, die EU-Mitgliedsstaaten zu unterstützen", sagte der französische Verwaltungsbeamte. Dafür seien die Mittel der Grenzschutzagentur in Griechenland und Italien aufgestockt worden. "Das ist eine riesige Aufgabe", so Leggeri, Frontex sei aber nicht dafür zuständig, Migranten auf dem Weg nach Europa abzuhalten oder abzuschrecken. Kriegsflüchtlinge hätten ein Recht auf Asyl.
Es müsse sichergestellt werden, dass alle Asylbewerber einen sicheren Weg in die EU fänden. Die tägliche Aufgabe von Frontex sei es, die Grenzüberwachung zu sichern und dabei Menschen zu retten, die in Not gerieten. In Griechenland und Italien würden die Migranten registriert und könnten einen Asylantrag stellen.

Verschiedene Routen der Flüchtlinge

Aus Afrika kämen aus wirtschaftlichen Gründen immer mehr Migranten, das stelle Frontex zwischen Libyen und Italien fest. "Zum Beispiel ist der Strom der Migranten seit Anfang des Jahren um mehr als 80 Prozent gestiegen." Im östlichen Mittelmeer gebe es eine ganz andere Lage. Dort gebe es die Flüchtlinge, die vor dem Krieg in Syrien flüchteten, aus dem Irak und Afghanistan. Dort könne die EU jetzt mit der Türkei zusammenarbeiten.
"Es gibt verschiedene Situationen in Libyen, in der Türkei und jetzt wahrscheinlich auch in Ägypten."

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer sind gestern vermutlich mehrere Hundert Flüchtlinge gestorben, ertrunken, die auf dem Weg waren von Ägypten aus nach Italien. Noch immer gibt es keine bestätigten Meldungen, der britische Sender BBC hat aber mit Überlebenden gesprochen, die inzwischen nach Griechenland gebracht wurden, und auch sie reden davon, dass mehrere Hundert Menschen an Bord dieser Schiffe waren, die überwiegend nicht gerettet werden konnten. Und das ist gestern nun also passiert, genau ein Jahr nach der bisher größten Katastrophe dieser Art im Mittelmeer.
Damals, im vergangenen Jahr ertranken 800 Menschen auf dem Weg von der libyschen Küste zur italienischen Insel Lampedusa. Und was damals folgte, war ein Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs und dann der Beschluss, die Ausgaben für die Frontex-Missionen Triton und Poseidon zu verdreifachen, und auch noch der Beschluss, eine weitere Mission, die nichts mit Frontex zu tun hat, ins Leben zu rufen, Sophia nämlich. Und das Fazit damals der europäischen Politiker war: So etwas darf sich nicht mehr wiederholen. Offenbar hat es dann jetzt aber doch getan, auch zwischendurch gab es immer wieder Tote im Mittelmeer. Und wir wollen deshalb jetzt mit Fabrice Leggeri reden. Er ist seit Anfang 2015 der Direktor der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, schönen guten Morgen, Monsieur Leggeri!
Fabrice Leggeri: Guten Morgen!
Kassel: Nach dem, was offenbar gestern wieder passiert ist, muss man da leider sagen: Auch Frontex hat versagt?
Leggeri: Nein, das kann man nicht sagen. Letztes Jahr in 2015 hat Frontex ungefähr 60.000 Menschen zwischen Libyen und Italien gerettet. Und auch letztes Jahr haben wir zwischen der Türkei und Griechenland fast 100 Menschen gerettet. Aber natürlich hat es gestern anscheinend wieder eine große Tragödie in Ägypten gegeben. Und da muss man auch verstehen, welches die Gründe sind, warum es solche Tragödien gibt. Es gibt immer große Ströme von Migranten, die aus Ländern flüchten, aus wirtschaftlichen Gründen, manchmal auch weil sie wirklich Flüchtlinge sind, weil es einen Krieg zum Beispiel in Syrien gibt. Und das sind die Ursachen, die meiner Meinung nach von der internationalen Gemeinschaft bekämpft werden sollten.

Riesige Aufgabe für Frontex

Kassel: Das sind die Hintergründe. Aber viele Menschen in Europa und auch Politiker zeigen ja immer auf Frontex und sagen: Die sollen das aber machen! Die sollen eigentlich drei Dinge machen im Mittelmeer, sie sollen die Flüchtlinge davon abhalten, die EU zu erreichen, sie sollen Flüchtlinge in Gefahr retten und sie sollen auch noch die Schlepperbanden an ihrer Arbeit hindern. Ist das für Ihre Agentur nicht doch eine Überforderung?
Leggeri: Ja, die Agentur, also Frontex hat die Aufgabe, die EU-Mitgliedsstaaten zu unterstützen. Wir haben seit zwei Jahren die Mittel der Agentur in Griechenland und in Italien stark aufgestockt. Das ist eine riesige Aufgabe, natürlich. Ich kann aber nicht zustimmen, wenn gesagt wird, dass wir die Immigranten abschrecken oder abringen sollten. Also, die Flüchtlinge, die Leute, die aus dem Krieg flüchten wollen, die haben ein Recht auf Asyl und wir müssen auch sicherstellen, dass alle Asylbewerber, dass alle potenziellen Flüchtlinge einen Weg, einen sicheren Weg in die EU finden.
Aber was die Agentur machen soll – und das ist ihre tägliche Aufgabe –, das ist also, die Grenzüberwachung zu erledigen, und dabei retten wir auch Menschen, die in Not sind. Dann, in den verschiedenen Ländern, zum Beispiel in Griechenland und Italien registrieren wir die Migranten und dann können auch diese Migranten einen Asylantrag stellen, falls sie einen Asylantrag stellen wollen.
Kassel: Aber gerät nicht Frontex auch innerhalb der EU-Staaten manchmal zwischen die Fronten? Wenn Sie so klar sagen, es ist nicht unsere Aufgabe, Flüchtlinge abzuschrecken, dann, kann ich mir vorstellen, gibt es durchaus auch Regierungen in Osteuropa, die da widersprechen würden und sagen würden: Doch, doch, dazu ist Frontex schon auch da!
Leggeri: Ja, aber die Ursachen dieser Migrantenströme müssen ganz klar verstanden werden. Auf dem afrikanischen Kontinent haben wir eine wirtschaftliche Krise, da kommen immer mehr – und das stellen wir auch zwischen Libyen und Italien fest – Migranten aus wirtschaftlichen Gründen. Zum Beispiel ist der Strom der Migranten seit dem Anfang dieses Jahres um mehr als 80 Prozent gestiegen.
Im östlichen Mittelmeer, also zwischen der Türkei und Griechenland haben wir eine ganz andere Lage, dort gibt es viele Syrer, die aus dem Krieg flüchten, wir haben auch viele Migranten aus dem Irak, viele aus Afghanistan und aus der östlichen Route. Im östlichen Mittelmeer kann jetzt die EU auch mit der Türkei zusammenarbeiten. Also, es gibt verschiedene Situationen in Libyen, in der Türkei und jetzt wahrscheinlich auch in Ägypten.

Zusammenarbeit mit Libyen

Kassel: Aber gerade auch mit Libyen will ja die Europäische Union enger zusammenarbeiten, das ist gerade gestern in Luxemburg beim Treffen der Außen- und auch Verteidigungsminister beschlossen worden. Ist das aus Ihrer Sicht auch für Frontex sinnvoll, eine sinnvolle Vorstellung: in libyschen Gewässern zum Beispiel auch kontrollieren und helfen zu können und vielleicht sogar auch auf dem libyschen Festland?
Leggeri: Im Mandat der Agentur ist es ganz klar, dass die Agentur in den Drittstaaten nicht Operationen einsetzen darf. Aber ich kann mir vorstellen, dass die Zusammenarbeit mit Libyen auch andere Wege finden könnte. Zum Beispiel kann die EU Libyen helfen, eine eigene Küstenwache aufzustellen. Und da könnte man schrittweise mit einer libyschen Regierung … Das wäre natürlich mein Wunsch, dass die EU mit einer libyschen Regierung zusammenarbeiten könnte, sodass die Migranten nicht ertrinken. Also, die beste Lösung, um diese Katastrophen zu vermeiden, ist, dass die Migranten keine Opfer der Schleuser oder der kriminellen Netzwerke sind. Und das ist auch die Wirklichkeit, die dahintersteckt, dass es kriminelle Netzwerke gibt, Schleuser, die viel Geld verdienen, die aber die Migranten belügen.

Katastrophen vermeiden

Kassel: Zum Schluss, Herr Leggeri, eine leicht persönliche Frage: Sie sind seit Anfang des vergangenen Jahres der Direktor von Frontex, haben sich vorher aber auch schon mit Flüchtlingspolitik und Grenzschutz beschäftigt. Wenn Sie von Warschau aus der Frontex-Zentrale oder auch von woanders beobachten, was im Mittelmeer passiert, Fälle wie gestern und die vielen kleineren Unglücke zwischendurch, verzweifeln Sie manchmal?
Leggeri: Ja, leider sind das immer Tragödien und von einer menschlichen Perspektive kann einer ja verzweifelt werden. Aber ich glaube, unsere gemeinsame Aufgabe, also ich meine die EU, alle Mitgliedsstaaten, aber auch die Nachbarn wie Libyen oder die Türkei und mit anderen Akteuren müssen wir uns anstrengen, solche Katastrophen zu vermeiden.
Kassel: Der Direktor der europäischen Grenzschutzagentur Frontex Fabrice Leggeri im Gespräch hier im Deutschlandradio Kultur. Monsieur Leggeri, ich danke Ihnen sehr für Ihre Zeit!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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