Etwas sensationell Neues

04.01.2011
Auch wer noch nie von ihr gehört hat, kennt zumindest eine ihrer Arbeiten, nämlich den kleinen Bären, der für die "Berlinale"-Trophäe Pate steht. In den 1920er-Jahren war die Bildhauerin Renée Sintenis eine Berühmtheit.
Bis zu ihrem Tod 1965 wurde sie mit Ehrungen überschüttet. Umso verwunderlicher, dass ihr Leben bislang noch nie mit einer Biografie gewürdigt wurde.

1888 in Schlesien geboren und in Neuruppin aufgewachsen, verdiente sie nach einem abgebrochenen Studium an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums in Berlin ihren Lebensunterhalt als Modell beim Bildhauer Georg Kolbe. Durch die Heirat mit ihrem Lehrer Emil Rudolf Weiß, einem renommierten Typografen und Innenarchitekten, öffneten sich ihr die Türen zur besseren Gesellschaft und damit zur Anerkennung als Künstlerin.

Gegen den Geschmack der Zeit, gegen wilhelminische Heroen mit klotzigen Fäusten entwarf sie etwas sensationell Neues: kleine Tierplastiken, kaum höher als 20 Zentimeter, handschmeichlerisch und elegant. In rasantem Tempo fanden die ihren Weg auf die Schreibtische der Mächtigen oder in die Kinderzimmer der Grunewald-Villen. Ihr "Wilder Steinbock" "Springendes Fohlen" oder "Junges Reh" wurden zu Verkaufsschlagern. Liebhaberstücke waren ihre Radierungen, die mit wenigen Strichen gezeichneten nackten Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden – ebenso wie ihre grazilen Bronzen von männlichen Sportlern, Boxern und Polospielern.

Trends setzte Renée Sintenis aber nicht nur in ihrer Kunst. Lange bevor der Bubikopf Mode wurde, trug sie schon vor dem Ersten Weltkrieg Männerhaarschnitt und maßgeschneiderte Zweireiher. Als bestverdienende bildende Künstlerin der Weimarer Republik rollte sie im amerikanischen Sportwagen über den Kurfürstendamm, allmorgendlich ritt sie auf ihrem Hengst Horaz durch den Tiergarten. Mit ihrer androgynen Schönheit beeindruckte die 179 Zentimeter große Amazone Männer und Frauen gleichermaßen, Rilke, Benn, Joachim Ringelnatz, die Schauspielerin Asta Nielsen, ihren Galeristen Alfred Flechtheim… Ringelnatz, der Dichter des "Kuddeldaddeldu", der drallen Verse über Leichtmatrosen und andere vertrackte Existenzen, verdankte seine Karriere als Maler dem energischen Einsatz der großen Bohemienne. Die Freundschaft zwischen den beiden bildet den Schwerpunkt des Buches.

1934 wurde Renée Sintenis als "Halbjüdin" aus der Akademie der Künste ausgeschlossen, aber die für ihre Arbeit existenzielle Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer behielt sie. Dass ein SS-Offizier im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Hans Hinkel, sie schützte, hat die Journalistin Silke Kettelhake herausgefunden.

Sintenis’ erste Biografin hat den offiziellen Nachlass der Künstlerin in der Berliner Akademie der Künste ebenso gründlich ausgewertet wie bislang ungehobene Schätze aus Korrespondenzen, die im Georg-Kolbe-Museum lagern. Den Staub auf diesen Zeugnissen hat Kettelhake kräftig weggeblasen, um sie in die politischen und gesellschaftlichen Umstände einzubetten. Mit plastischen Anekdoten erweckt sie die Atmosphäre der 20er- bis zu den 50er-Jahren in Berlin, und sie findet eine lebendige, manchmal allerdings zu erlebnissatte Sprache sowohl für Stimmungen als auch für die Schicksale vieler Weggefährten.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Silke Kettelhake: Renée Sintenis. Berlin, Boheme und Ringelnatz
Osburg Verlag, Berlin 2010
480 Seiten, 24,90 Euro