Ethan Watters: "Crazy like us"

Wie westliche Diagnosen andere Länder krank machen

Ein Arzt im Arztkittel mit Stethoskop um den Hals gestikuliert mit Papier und Stift in den Händen.
Beispielsweise in Hongkong, Sanisbar Japan: Viel Diagnose, viele Medikamente, wenig nachhaltige Heilung, genau wie im Westen - beklagt Ethan Watters. © imago/Reporters
Von Susanne Billig · 22.03.2016
Schizophrenie, Depression, Anorexie: Der renommierte amerikanische Journalist Ethan Watters zeigt in seinem aufrüttelnden Buch "Crazy like us", welchen Schaden der Westen mit dem Export seiner medizinischen Diagnosen und Therapien in alle Welt anrichtet. Denn damit kommen auch die westlichen Probleme.
Nach dem Tsunami Ende 2004 traf eine zweite Welle der Zerstörung die Menschen in Südostasien: Westliche Trauma-Therapeuten mit milliardenschweren Hilfsprogrammen im Rücken fluteten Kulturen, von denen sie nichts wussten und nichts verstanden. Sie hinterließen Ratlosigkeit, Entmündigung und kulturelle Entwurzelung.
In seinem ungewöhnlichen und hochinteressanten Buch "Crazy like us" setzt sich Ethan Watters auf die Spur einer westlichen Medizin und Psychologie, die ihre Diagnosen und Therapien in alle Welt exportiert. Stilmittel des renommierten amerikanischen Journalisten ist die einfühlsame, erzählende Reportage.
In Hongkong trifft er sich mit dem Arzt Sing Lee, Fachmann für Essstörungen. Auf Tag und Stunde genau kann Dr. Lee sagen, wann die westliche Diagnose der "Anorexie" in Hongkong Einzug hielt: Am 24. November 1994 brach die 14-jährige Charlene Hsu Chi-Ying verhungert auf der Straße zusammen und starb noch an Ort und Stelle. Ein Medienrummel brach los, in dessen Verlauf chinesische Journalisten auf die Idee kamen, westliche Experten um Erklärungen zu bitten. Schulprogramme gegen den "Diätwahn" wurden aufgelegt – und anorektische Mädchen zu einem Massenphänomen.
Sing Lee jedoch weiß aus Praxis und Forschung, dass es das Krankheitsbild in China bis dahin nicht gegeben hatte. Zwar hatten sich junge Frauen in seltenen Fällen zu Tode gehungert, doch nie aus Angst vor dem Dickwerden, sondern aus jeweils sehr individuellen Schwierigkeiten.

Großartig erzählt und mit gründlicher Analyse untermauert

Heute hat nicht nur Hongkong ein Anorexie-Problem, sondern auch Sansibar eine Schizophrenie- und Japan eine Depressions-Epidemie – viel Diagnose, viele Medikamente, wenig nachhaltige Heilung, genau wie im Westen. Und ähnlich wie in westlichen Ländern haben auch Stigmatisierungen Einzug gehalten, die es zuvor nicht gab. Seit Jahren zeigen Studien, dass Menschen sich wesentlich einfühlsamer verhalten, wenn sie nicht von schadhaften Genen oder Gehirnen ausgehen, sondern eine schwere Kindheit für den Leidensgrund eines psychisch Kranken halten.
Am Beispiel Sansibar kann Ethan Watters zeigen, wie die Erklärung, ein krankes Familienmitglied sei von Dämonen besessen, entgegen westlichen Vorurteilen tatsächlich zu Akzeptanz und Integration führt: In der Vorstellung der Bevölkerung sind Geister und Dämonen allgegenwärtig. Sie kommen und gehen, wie es ihnen beliebt, entsprechend viel Verständnis bringen Familien für die Krankheitsschübe ihrer Angehörigen auf und fühlen sich von deren Verhalten kaum befremdet. Inzwischen sitzen auch in Sansibar Kranke sozial isoliert in Psychiatrien nach westlichem Zuschnitt.
Ein aufrüttelndes Buch legt Ethan Watters hier vor, großartig erzählt und mit gründlicher Analyse und Recherche untermauert. Selbstverständlich können auch Dorfheiler und intakte soziale Bande nicht jedes seelische Leiden kurieren, betont der Autor. Nicht besser, nur anders seien die vom Westen zunehmend abgeschafften Heilverfahren anderer Kulturen. Im Gegensatz zu westlichen Methoden jedoch sind sie, sofern noch vorhanden, tief eingebunden in beschützende soziale Bündnisse und Identitäten.

Ethan Watters: "Crazy like us – Wie Amerika den Rest der Welt verrückt macht"
Übersetzung: Thorsten Padberg
DGVT Verlag, Tübingen 2016
236 Seiten, 19,90 Euro

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