Esther Freud: "Mein Jahr mit Mr Mac"

Der Sonderling von Walberswick

Luftbild des ostenglischen Küstenortes Walberswick, in dem Esther Freuds Roman "Mein Jahr mit Mr Mac" spielt.
Luftbild des Küstenortes Walberswick in der ostenglischen Grafschaft Suffolk © dpa / picture alliance / PA Hanson
Von Ursula März · 21.05.2016
An der ostenglischen Küste spielt der sechste Roman von Esther Freud, der Urenkelin des Wiener Psychoanalytikers. "Mein Jahr mit Mr Mac" erzählt von einem misstrauisch beäugten Maler, der sich während des Ersten Weltkriegs in dem Dorf Walberswick niederlässt – und für einen halbwüchsigen Jungen sehr wichtig wird.
Ihr Urgroßvater, der Psychoanalytiker Sigmund Freud, hätte auf einen Blick erfasst, welche Erinnerungen, Sorgen und Themen sie umtreiben. Ihre weltweite Leserschaft kann es aus ihren mittlerweile sechs Romanen erschließen: Vatersuche und entwurzelte Kindheit, die Liebe zur Malerei, die sie wohl ihrem nicht minder berühmten Vater Lucian Freud verdankt, und die Liebe zur englischen Küste, all das spielt in den Büchern der 1963 geborenen englischen Schriftstellerin Esther Freud eine ausschlaggebende Rolle.
In ihrem neuen Roman "Mein Jahr mit Mr Mac" kehrt sie einmal mehr zur ostenglischen Küstenlandschaft von Suffolk zurück, wo bereits "Das Haus am Meer" aus dem Jahr 2005 spielte, und wo Esther Freud selbst einen Zweitwohnsitz hat. Das Dorf Walberswick, wo die Romanhandlung während des Ersten Weltkriegs spielt, gibt es tatsächlich, ebenso das Gasthaus Blue Anchor.

"Mr Mac" hat es wirklich gegeben

Auch eine der beiden Hauptfiguren, der renommierte Architekt, Designer und Maler Charles Rennie Mackintosh, im Roman kurz Mr Mac genannt, entspringt der historischen Realität. Er war, 1868 in Glasgow geboren, ein Schotte, Mitbegründer der Architektengemeinschaft "The Four", die entscheidenden Einfluss hatte auf den modernen Baustil der Glasgow Stil, und er gilt als bedeutender Vorläufer der Modern Art.
Dies alles sollte der Leser, wenn er den Kontext von "Mein Jahr mit Mr Mac" erschließen will, allerdings in einem Architekturlexikon nachschlagen. Denn der Ich-Erzähler Thomas, die zweite Hauptperson des Romans, kann davon nichts mitteilen. Denn erstens ist sein Lebensrahmen auf Walberswick und das elterliche Gasthaus Blue Anchor beschränkt. Zweitens ist er ein halbwüchsiger Junge. In der fast kindlichen Erzählperspektive liegen Reiz und Herausforderung von Esther Freuds neuem Roman.

Flucht aus bedrückenden Verhältnissen

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges lässt sich in Walberswick ein Paar nieder, das einen rätselhaften Eindruck macht: Mr Mac und seine Frau Margaret. Sie wirken wie Sonderlinge, die ihre Zeit mit langen Spaziergängen und Malen verbringen. Thomas ist fasziniert von Mr Mac, sucht seine Nähe, genießt den Kontakt mit dem Maler auch, um den eigenen bedrückenden Familienverhältnissen zu entfliehen. Der Vater trinkt, neigt zu Gewaltausbrüchen. Die Mutter kommt über den Tod von sechs Kindern, sechs Jungen nicht hinweg. Dass er selbst malt und künstlerisch begabt ist, nehmen die vom Gasthausbetrieb in Beschlag genommenen Eltern kaum wahr – Mr Mac schon.
Kunstvoll verschiebt Esther Freud die Ausgangskoordinaten der Erzählung. Der Krieg kommt bedrohlich näher, das Dorf betrachtet das fremde Paar immer argwöhnischer, verdächtigt es der Spionage für die Deutschen. Thomas nimmt langsam wahr, dass sich Mr Mac in einer Existenzkrise befindet. Auch sie ist verbürgt. Nur den Jungen hat die Autorin erfunden und glaubwürdig in die Geschichte des 20. Jahrhunderts montiert.
Bisweilen geraten die Beschreibungen der Außenwelt des Romans zu ausführlich. Umso reizvoller ist, in seiner Innenwelt einer nur erahnbaren Spur zu folgen: Sie führt vom erwachsenen Mr Mac zum kindlichen Mr Mac, der gewesen sein könnte, wie Thomas ist.

Esther Freud: Mein Jahr mit Mr Mac
Aus dem Englischen von Anke und Eberhard Kretzer
Berlin Verlag 2016, 365 Seiten, 22 Euro

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