Essay

Furcht vor Grausamkeit als Garantie von Freiheit

Besprochen von Marko Martin · 18.11.2013
Judith N. Shklar verortet den Liberalismus dort, wo ihn Intellektuelle wie Hannah Arendt und Ralph Darendorf ohnehin immer sahen: an der Seite des verantwortungsvollen Individuums, das sich kollektiven Zuschreibungen verweigert, aber dennoch für das Gemeinwesen tätig wird.
Die übliche Erzählung über die Entstehung des Liberalismus geht so: Am Ende des Feudalismus wurde es den Kaufleuten zu viel, sich ökonomisch gängeln zu lassen, weshalb sie eine Freiheit forderten, die vor allem eine des Geschäfts sein sollte.
Nebenwirkungen wie etwa garantierte Menschenrechte waren nicht ausgeschlossen, wurden jedoch keineswegs an erster Stelle angestrebt. So verkürzt dies klingen mag - die Marktradikalen der Gegenwart (zu schweigen von den Funktionären einer Partei, die inzwischen nicht mehr im Bundestag vertreten ist) sind vom Vorwurf nicht frei zu sprechen, genau dieses Zerrbild reproduziert zu haben.
Nun ist auf Deutsch ein schmales, aber gewichtiges Buch mit dem Titel "Liberalismus der Furcht" erschienen. Trotz des defensiv wirkenden Titels verortet es den Liberalismus wieder dort, wo ihn Intellektuelle wie Hannah Arendt oder Ralph Dahrendorf ohnehin immer sahen: an der Seite des verantwortungsvollen Individuums, das sich kollektiven Zuschreibungen verweigert, aber dennoch für das Gemeinwesen tätig wird.
Erfahrung der blutigen Religionskriege prägend
Die Autorin Judith Shklar wurde 1928 in eine jüdischen Familie in Riga geboren und verstarb bereits 1992 in den USA, wo sie nach ihrer frühen Flucht aus Europa in Cambridge/Massachusetts lehrte. Für sie leitet sich der Liberalismus aus der Erfahrung der blutigen Religionskriege ab und der Konsequenz, den Streit um die allerletzten Wahrheiten aus dem Alltagsdiskurs heraus zu halten. Stattdessen müsse dafür Sorge getragen werden, dass jeder ohne Furcht vor Grausamkeit leben könne. Ein karges Minimalprogramm?
Im Gegenteil, schreibt Judith Shklar in ihrem im Mauerfalljahr 1989 erstmals veröffentlichten Essay, der in den USA eingehend rezipiert wurde. Betrachte man nämlich die Geschichte, so sei Tyrannei beinahe immer die Regel und die Existenz einer liberalen Demokratie die Ausnahme. Um Letztere zu verteidigen, braucht es laut Judith Shklar deshalb nicht nur robuste Institutionen, sondern auch ein feines Sensorium der Bürger gegenüber Machtmissbrauch - welcher im übrigen von staatlichen Bürokratien ebenso ausgehen kann wie von Konzernen.
Eine unprätentiöse und skrupulöse Denkerin
"Eine politische Ordnung auf der Vermeidung von Furcht und Grausamkeit zu errichten, ist nur dann ´reduktionistisch´, wenn man körperlicher Erfahrung schon von vornherein mit Verachtung gegenüber steht." Dazu schreibt sie uns - auch darin verblüffend aktuell - ins Stammbuch: "Auch sollten wir nicht zulassen, dass mehr Handlungen kriminalisiert werden als für unsere gegenseitige Sicherheit erforderlich ist." Mit Judith Shklar ist nun auch im deutschen Sprachraum eine ebenso unprätentiöse wie skrupulöse Denkerin zu entdecken.

Judith N. Shklar: "Der Liberalismus der Furcht"
Mit einem Vorwort von Axel Honneth und Essays von Michael Walzer, Seyla Benhabib und Bernhard Williams
Herausgegeben und aus dem Amerikanischen übersetzt von Hannes Bajohr
Matthes & Seitz, Berlin 2013
176 Seiten, 14, 80 Euro

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