"Es wird sicher auch noch viel mehr geschrieben werden"

Die Mauerjahre seien bitter und schmerzlich gewesen, resümiert Doris Liebermann.
Die Mauerjahre seien bitter und schmerzlich gewesen, resümiert Doris Liebermann. © Deutschlandradio
Doris Liebermann im Gespräch mit Frank Meyer · 12.08.2011
Die Journalistin Doris Liebermann hat sich bei ihren Recherchen gewundert, wie viele Texte und Gedichte durch die Berliner Mauer inspiriert worden sind. Dass sich Mitte der 90er-Jahre auch die Mauerkinder-Generation literarisch zu Wort gemeldet habe, sei besonders bemerkenswert.
Frank Meyer: Der Schnitt ins eigene Fleisch, der Schnitt durchs Land, so hat der Lyriker Bernd Jentzsch über die Mauer geschrieben. Für welche Schriftsteller in Deutschland die Mauer ein Schnitt ins eigene Fleisch war, das besprechen wir mit der Autorin Doris Liebermann, die jüngst ein Essay zu diesem Thema veröffentlicht hat. Seien Sie uns willkommen!

Doris Liebermann: Guten Tag!

Meyer: Frau Liebermann, Sie wurden selbst aus der DDR ausgebürgert, 1977, nachdem Sie gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann protestiert hatten. Danach, welche Bedeutung hatte dann die Mauer für Sie nach ihrer Ausbürgerung?

Liebermann: Na, eine ganz zentrale in meinem Leben. Ich wohnte ja in Westberlin. Wir waren eine Gruppe von Jenaern, zwölf Jenaer insgesamt, die ausgebürgert worden sind, und womit wir nicht gerechnet hatten, dass die DDR uns wirklich nicht einreisen lässt. Also, bis zum Jahre 1989, bis zum Fall der Mauer, hatten wir alle mehr oder weniger Einreiseverbot, und meine ganze Familie saß sozusagen hinter der Mauer, und das waren schon bittere, schmerzliche Jahre.

Meyer: Das war dann für Sie logischerweise etwas Ungeheures, diese Trennung von Ihrer ganzen Familie, von Freunden auch, und überhaupt war ja die Mauer, wenn man sie sich wieder vor Augen führt, was das eigentlich war, die Einmauerung eines ganzen Landes etwas Ungeheures. Und damit könnte man annehmen, die Mauer war auch ein ungeheures Thema für die deutsche Literatur. War sie das denn?

Liebermann: Ich denke, doch, ja. Vielleicht nicht im gleichen Maße in Ost und West – mehr in Ost oder mehr bei den Autoren, die aus der DDR in den Westen ausgereist sind, die eben diese Erfahrung der Mauer wirklich auch praktisch gemacht haben. Aber ich denke schon, dass es ein großes Thema in der deutschen Literatur ist. Ich war selbst überrascht, als ich anfing, nach Texten zur Mauer zu suchen, wie viele Texte es gibt, wie viele Gedichte es gibt.

Meyer: Es gibt ein Buch, vielleicht schauen wir uns das zum Anfang mal an, das trägt die Mauer metaphorisch jedenfalls schon im Titel, auch ein sehr berühmtes Buch zu diesem Thema: "Der geteilte Himmel" von Christa Wolf. Das hat sie 1963 veröffentlicht. Nach literarischen Maßstäben muss das unmittelbar nach dem Mauerbau entstanden sein. Wenn Sie heute auf dieses Buch schauen, was für eine Haltung zeigt das zur Mauer?

Liebermann: Na, doch eine gewisse ambivalente Haltung. Dieses Buch schildert ja die Geschichte eines Liebespaares, Rita und Manfred, er ist Chemiker und er flüchtet nach Westberlin, und diese junge Freundin besucht ihn noch in Westberlin, kehrt aber dann in die DDR zurück und entscheidet sich gegen den geliebten Mann aus Klassenbewusstsein und für ihr Arbeitskollektiv, bricht aber durch diese Entscheidung zusammen und muss in die Klinik kommen. Und das ist eigentlich der Beginn dieses Buches auch. Christa Wolf verteidigt die Mauer, aber zeigt auch doch die Schmerzen, die damit verbunden sind.

Meyer: Ist das eine Haltung, auf die Sie öfter gestoßen sind, nachdem Sie sich Bücher angeschaut haben, die von der Mauer berichten?

Liebermann: Bei DDR-Autoren auf jeden Fall. So sehr interessant fand ich zum Beispiel eine Aussage von Adolf Endler, der ist 1955 aus dem Westen in die DDR gegangen und dort geblieben, und er schreibt so in den letzten Lebensjahren, er hätte geglaubt, dass der Bau der Mauer die DDR liberalisieren würde, und fühlte sich dann aber von der DDR-Führung betrogen. Und ich glaube, diese Haltung, zu glauben, dass die DDR liberaler würde nach dem Mauerbau, hatten mehrere Autoren. Man findet so eine Haltung zum Beispiel auch bei Wolf Biermann.

Meyer: Wolf Biermann und die Folgen, das war natürlich eine Zäsur für sich selbst, darüber haben wir am Anfang kurz gesprochen. War das auch eine Zäsur für das Schreiben über die Mauer, gerade im Osten?

Liebermann: Vor allem bei den Autoren, die in der Folge der Biermann-Ausbürgerung dann selber aus der DDR weggegangen sind. Oft - stellte sich heraus - hatten sie schon Texte über die Mauer geschrieben; verschlüsselt von Hans-Joachim Schädlich gibt es zum Beispiel einen sehr interessanten Text in seiner Prosasammlung "Versuchte Nähe", wo er einen Schriftsteller aus Frankreich, der eigentlich als reale Figur im 17. Jahrhundert gelebt hat, in einer unbekannten Stadt wohnen lässt, und diese unbekannte Stadt ist aber, wenn man das genau liest, Ostberlin, und der Schriftsteller wohnt an der Mauer.

Meyer: Da taucht es verschlüsselt auf. Wir reden mit der Autorin Doris Liebermann über die Mauer in der Literatur, einen Tag vor dem 50. Jahrestag des Mauerbaus. Sie haben jetzt über ostdeutsche Autoren gesprochen beziehungsweise auch gerade über Ostdeutsche, die in den Westen gehen müssten, aber für die eigentliche westdeutsche Literatur war die Mauer eigentlich gar kein Thema, kann man sagen, oder?

Liebermann: Nein, das kann man so nicht sagen, das hat mich auch überrascht. Zum Beispiel schreibt Günther Grass gleich am 14. August 1961 einen Brief an Anna Seghers und fordert sie auf, doch Haltung zu beziehen zu diesen schrecklichen Maßnahmen, dieses Mauerbaus. Und daraus entwickelt sich eine ganze Polemik, die Hans-Werner Richter von der Gruppe 47 noch im Dezember 1961 herausgegeben hat – ein ganzer Band mit Briefen hin und her, und Zeitungsartikeln, Veröffentlichungen, das ist sehr interessant, das nachzuvollziehen.

Und noch in den 60er-Jahren gibt es auch von Westautoren Haltungen, Bücher zur Mauer. Das lässt dann nach, als die Teilung eben zunehmend manifester wird, als beide Länder oder beide Hälften Deutschlands in die UNO aufgenommen werden, als die DDR die Verfassung ändert 1974 und die Einheit der Nation streicht, dann merkt man, wie es nachlässt von westlicher Seite.

Meyer: Und die Beispiele, die Sie aber gerade genannt haben, das waren ja Autoren, die man zur Linken zählen würde. Eine Kritik an der Mauer auch von linker literarischer Seite im Westen, das gab es durchaus?

Liebermann: Durchaus, das wichtigste Buch ist sicher dann Peter Schneider 1982 "Der Mauerspringer", wo er eben diese prophetischen Worte formuliert: "Es wird länger dauern, die Mauer im Kopf einzureißen, als ein Abrissunternehmen braucht."

Meyer: Das heißt, ihm haben wir diese Formulierung - die hat ja wirklich Karriere gemacht – die Mauer in den Köpfen, das verdanken wir Peter Schneider.

Liebermann: Ja!

Meyer: Und was ist das für ein Buch, "Der Mauerspringer"? Was für einen Bezug hat das zur Mauer?

Liebermann: Peter Schneider gehörte ja zu den Autoren, die auch nach Ostberlin eingereist sind, der auch Wolf Biermann schon in Ostberlin kannte und natürlich die Folgen der Biermannausbürgerung in Westberlin auch hautnah miterlebt hat. Und ich glaube, das ist auch eine Reaktion eben auf diesen Exodus von DDR-Schriftstellern.

Es ist etwas schwierig zu beschreiben, weil es sowohl fiktive wie realistische Passagen in dem Buch gibt, viele einzelne Miniaturen sich aneinanderreihen. Und diesen Mauerspringer hat es aber tatsächlich gegeben; da gab es nach dem Fall der Mauer sogar noch einen Prozess in Berlin dieses Mauerspringers, der die DDR verklagte auf Schadensersatz, aber nicht gewann vor Gericht.

Meyer: Die Lage im Schreiben über die Mauer hat sich ja nun nach 1989 logischerweise extrem verändert, vor allem für die Ostdeutschen Autoren. Gleichzeitig hatte sich aber das Thema auf gewisse Weise jedenfalls historisch erledigt. Es sind ja einige Bücher sehr bekannt geworden, zum Beispiel von dem Ostberliner Thomas Brussig: "Helden wie wir – am kürzeren Ende der Sonnenallee" zum Beispiel; Bücher, die sich mit der Mauer auseinandersetzen. Kann man denn sagen, es gab 1989 so was wie eine Blüte der Mauerliteratur?

Liebermann: Nein, ich glaube, das setzt erst zehn Jahre später ein. Für mich interessant ist eigentlich, dass diese Kindergeneration sich zu Wort meldet, Julia Frank zum Beispiel, die als Achtjährige aus Ostberlin ausreiste und ein Dreivierteljahr im Lager Marienfelde wohnen musste, oder Susanne Schädlich, die Tochter von Hans-Joachim Schädlich, oder Nicki Pawlow, die mit ihrer Familie geflohen ist in den Westen – jüngere Frauen, die sich mit diesem Thema Mauer und Teilung auseinandersetzen.

Meyer: Und wie erklären Sie sich das, dass eigentlich die Kinder der unmittelbar betroffenen jetzt darüber schreiben?

Liebermann: Na ja, offenbar sind es eben sehr traumatische und prägende Erlebnisse für Ihr Leben gewesen.

Meyer: Was würden Sie denn in der Rückschau sagen? Würden Sie sagen, die deutschen Autoren haben dieses große, ungeheure Thema – die Mauer, die deutsche Teilung – haben sie das tatsächlich adäquat behandelt in ihren Büchern?f

Liebermann: Ich glaube schon, und es wird sicher auch noch viel mehr geschrieben werden. Es kommen einfach immer wieder so neue Geschichten heraus über geteilte Fußballklubs, geteilte Schulklassen. Also wirklich ganz viel Stoff für Literatur auch!

Meyer: Und können Sie uns zum Abschied vielleicht noch ein Buch ans Herz legen, das für Sie das Buch zur Mauer ist – gibt es so etwas?

Liebermann: Sehr wichtig ist für mich Uwe Johnson, "Zwei Ansichten", auch eine Liebesgeschichte, die ohne Happy End endet, die 1961 spielt, und zum Fall der Mauer ganz wichtig, Martin Ahrends, "Zwischenland". Er schildert die psychische Deformation für seine Familie, die durch den Bau der Mauer ausging.

Meyer: Am 13. August 1961 wurde mit dem Bau der Mauer begonnen. Über die Mauer in der deutschen Literatur haben wir hier mit der Autorin Doris Liebermann gesprochen. Im September wird übrigens im Christoph Links Verlag ein Buch erscheinen mit Texten über die Berliner Mauer in Kunstliteratur und im Film – Doris Liebermann ist eine der Autorinnen dieses Buches. Für heute vielen Dank für das Gespräch!

Liebermann: Danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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