"Es wird mit Sicherheit wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landen"

Hans Meyer im Gespräch mit Marietta Schwarz · 10.06.2011
Das Bundesverfassungsgericht hat Teile des Wahlgesetzes für verfassungswidrig erklärt und gab den Parteien bis Ende Juni 2011 Zeit, eine Neufassung zu formulieren. Dies könnte auch in Karlsruhe gestoppt werden, glaubt der Staatsrechtler Hans Meyer.
Marietta Schwarz: Der Bundestag muss sein Wahlgesetz ändern, das hat das Bundesverfassungsgericht bereits vor drei Jahren so entschieden. Es geht dabei, etwas vereinfacht gesagt, um die wachsende Zahl an Überhangmandaten, also jene Mandate, die dann entstehen, wenn eine Partei durch Erststimmen mehr Direktmandate erreicht, als ihr durch Zweitstimmen an Mandaten zustehen würden, wodurch sich die Zahl ihrer Sitze im Bundestag am Ende erhöht. Mal profitiert die SPD davon, mal die Union.

Nach der Verfassung wird durch dieses sogenannte negative Stimmgewicht die Gleichheit der Wahl verfehlt. Für die nötige Reform läuft die Frist nun am 30. Juni ab, passiert ist in den letzten drei Jahren aber so gut wie gar nichts. Heute treffen sich Volker Kauder, Vorsitzender CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und FDP-Fraktionschef Brüderle zu Beratungen in dieser Sache, bis Ende Juni aber wird es kein neues Gesetz geben. Am Telefon bin ich verbunden mit dem Staatsrechtler Hans Meyer, früher Präsident der Humboldt-Universität in Berlin. Guten Morgen, Herr Meyer!

Hans Meyer: Guten Morgen, Frau Schwarz!

Schwarz: Herr Meyer, das Prinzip Überhangmandat, das gibt es ja schon, seit in der Bundesrepublik gewählt wird. Warum ist es denn jetzt vor drei Jahren zu so einem brisanten verfassungsrechtlichen Thema geworden?

Meyer: Die Überhangmandate waren nicht direkt Gegenstand, sondern das sogenannte negative Stimmgewicht, also die Tatsache, dass eine Stimme für eine Partei gegen sie wirken kann. Und das hängt allerdings mit den Überhangmandanten zusammen. Und vor drei Jahren ist das hochgekommen, weil bei der Dresdner Nachwahl – als eine Kandidatin vor der Wahl gestorben war, musste in Dresden ein Wahlkreis neu gewählt werden – man gemerkt hat, dass wenn zu viele Leute CDU wählen, sie in ich glaube Nordrhein-Westfalen ein Mandat verlieren. Und das hat dazu geführt, dass 10.000 Wähler, an und für sich CDU-Wähler, die CDU nicht gewählt haben. Dann wurde es jedem klar, was aber schon den Eingeweihten vorher klar war, dass man auf diese Weise sozusagen seiner eigenen Partei schaden kann oder nützen kann, indem man ja keine Stimme gibt. Das ist natürlich ein Wahlsystem, das für eine Bananenrepublik passt, aber nicht für einen ordentlichen Staat, wie die Bundesrepublik zu sein behauptet.

Schwarz: Gerhard Schröder hatte 2005 gehofft, mit Überhangmandaten die Wahl noch gewinnen zu können, die Union hat bei der letzten Wahl 24 Überhangmandate bekommen – ist das eine Tendenz, dass diese Mandate zunehmen?

Meyer: Ja, es ist eindeutig eine Tendenz, und was die jetzige Koalition, die die natürlich behalten will, wenn es irgend geht, übersieht, ist, dass dieses Urteil, das damals 1997 gefällt worden ist, durchaus einen Vorbehalt gemacht hat – obwohl sowieso nur vier Richter dafür gestimmt haben –, einen Vorbehalt gemacht hat, indem sie gesagt haben, dass wenn die Verhältnisse sich so ändern, dass regelmäßig viele Überhangmandate anfallen, dann ist das unzulässig.

Und diesen Zustand haben wir erreicht, denn mittlerweile beruhen die Überhangmandate auf der Schwäche der großen Parteien. Das heißt, je weniger Zustimmung die Parteien bekommen, umso eher bekommen sie Überhangmandate. Das lässt sich sehr schön zeigen - etwa in Baden-Württemberg hat die CDU bei der letzten Wahl 400.000 Zweitstimmen weniger bekommen als in der Wahl vorher, daraufhin sind die Überhangmandate von drei auf zehn geschnellt. Und dasselbe gilt für die CSU, die noch nie ein Überhangmandat bekommen hatte, die hat bei der letzten Wahl drei Überhangmandate bekommen und 600.000 Zweitstimmen verloren. Das heißt, da besteht eine Kausalität, und dies ist natürlich unmöglich, das ist ja eine Verhohnepipelung des Wählers, dass wenn einer eine Partei nicht wählt, die dadurch einen Gewinn einfährt.

Schwarz: Das heißt natürlich, für die großen Parteien sind Überhangmandate von Vorteil. Hat deshalb die Union bei der Wahlreform auf die Bremse gedrückt?

Meyer: Ja, selbstverständlich. Sie wollen unbedingt ihre Überhangmandate beibehalten und haben auch bisher, was man so hört, eine Idee vorgelegt, die das auch garantiert. Das ist ja auch klar, aus ihrem Interesse her müsste sie das machen. Nur mit der Verfassung hat das überhaupt nichts zu tun.

Und wenn sie das durchsetzen werden, wird das Erste sein, dass die Klagen beim Bundesverfassungsgericht sich häufen werden. Und das Gericht wird sicherlich nicht sehr freundlich gesonnen sein, denn es hat ja damals eine völlig unverständliche Frist von drei Jahren gesetzt, von denen zweieinhalb Jahre völlig ungenutzt von der Politik verstreichen lassen worden ist.

Schwarz: Wie sieht es denn bei Koalitionspartner FDP aus, der dürfte als kleinere Partei ja kein Interesse am jetzigen Zustand haben?

Meyer: Nein, aber die FDP-Wähler splitten besonders stark, und das Stimmen-Splitting, also die Gabe der Erststimme an eine Partei als die, die man mit der Zweitstimme wählt, ist bei FDP-Wählern besonders ausgeprägt. Und wenn die FDP ihr Heil ausschließlich an der Seite der CDU sieht, wird sie möglicherweise die Kröte schlucken, dass natürlich nur die CDU von den Überhangmandaten profitiert, nicht sie selbst. Wenn sie das nicht macht, wenn sie also auch vielleicht sich andere Koalitionsoptionen offen halten will, muss sie dagegen sein. Im Augenblick sieht es ja so aus, als ob sie nun die CDU bremsen will, aber wie weit ihr das gelingt, weiß ich nicht.

Schwarz: Man sieht also, es gibt parteipolitische Interessen – lässt sich vor diesem Hintergrund überhaupt ein neues, ein gutes Gesetz formulieren?

Meyer: Ein gutes Gesetz wird sicherlich nicht formuliert werden, das liegt auch daran, dass man es nicht ordentlich behandelt hat. Das Parlament hätte einen Sonderausschuss einsetzen müssen, denn die Sache ist sehr kompliziert, wie Sie schon an meinen Erläuterungen sicher gemerkt haben, und das kann man nicht übers Knie brechen.

Und das Gesetz, das gemacht werden wird, wird sicher eins sein, das übers Knie gebrochen wird. Das heißt, es wird mit Sicherheit wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landen, und da das Gericht sicherlich einigermaßen empört ist über das Verhalten der Regierungsfraktionen, wird die Chance, dass das Gesetz in Karlsruhe nicht durchkommt, sehr hoch sein.

Schwarz: Haben wir also jetzt erst mal ab 30. Juni ein verfassungswidriges Wahlgesetz?

Meyer: Ja, wir hatten immer schon ein verfassungswidriges Wahlgesetz – das hat das Gericht ja gesagt, dass es verfassungswidrig ist, es hat aber gesagt, es muss geändert werden bis zum 30. Juni. Und jetzt weiß keiner so recht, haben wir nun ein nichtiges Gesetz oder muss das Gesetz für nichtig erklärt werden, was machen die damaligen Kläger, gehen sie noch mal vor das Gericht und sagen, jetzt musst du etwas machen, liebes Gericht. Das muss man mal abwarten, wie das Gesetz aussieht, aber das sind interessante Fragen, die aber kompliziert sind zu beantworten.

Schwarz: Der Staatsrechtler Hans Meyer über das verfassungswidrige Wahlgesetz und die Verzögerungstaktik der Koalition. Heute beraten Volker Kauder und Rainer Brüderle darüber. Herr Meyer, herzlichen Dank für das Gespräch!