Es war einmal ...

Von Björn Gottstein · 17.01.2012
Maurice Ravels Ma mère l'oye wurde von Märchen inspiriert. Schon der Titel, "Ma mère l'oye", im Deutschen "Mutter Gans", wurde einer Märchensammlung entlehnt, die Charles Perrault 1697 veröffentlicht hatte und die wesentlich dazu beigetragen hatte, das Märchen als literarische Gattung zu etablieren.
Darin enthalten sind die Geschichten vom Dornröschen und vom Kleinen Däumling, der nicht nach Hause findet, weil die Vögel seine Wegmarkierung verspeisen. Das Märchen von der Kaiserin Laideronette, die badet, während die Zwergenwesen der Pagoden dazu auf Nussschalen musizieren, hat Marie-Catherine Baronne d'Aulnoy verfasst, eine Zeitgenossin Perraults. Die Geschichte von der Schönen und dem Tier, das sich schließlich in einen Prinz verwandelt, schrieb im 18. Jahrhundert die Märchendichterin Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. Nur den "Feengarten" hat sich Ravel als glänzenden Schlusspunkt selbst ausgedacht.

"Kindlich" und "geistreich" sind für Ravels Mutter Gans Schlüsselbegriffe. Einerseits prägt die Einfachheit die musikalische Faktur des gesamten Zyklus. Ravel taucht seine Märchen in eine bizarre Klangwelt von fast überirdischer Schönheit. Mit vielen leeren Intervallen, mit Quarten, Quinten und Oktaven also, und modalen Melodien, die fast mittelalterlich anmuten, evoziert er das Gefühl von Zeitlosigkeit.

Ganz selten nutzt Ravel auch lautmalerische Elemente, wie die Stimmen der Vögel, die von des Däumlings Brotkrumen angelockt werden.

Ravels "Ma mère l'oye" existiert in drei Fassungen: erstens in der ursprünglichen Fassung für Klavier zu vier Händen, zweitens als Orchestersuite für den Konzertsaal, die 1911 entstand und die heute auf dem Programm steht, und schließlich als Ballettmusik für Orchester mit weiteren Szenen, Übergangsmusiken zwischen den Sätzen und einer Rahmenhandlung.