"Es sieht sehr düster aus bei einer Art neuem Konsens"

Norman Birnbaum im Gespräch mit Britta Bürger · 06.11.2012
Die Bürger der USA haben nicht nur die Wahl zwischen zwei Präsidentschaftskandidaten, sie müssen sich auch zwischen zwei verschiedenen gesellschaftlichen Visionen entscheiden. Der Soziologe Norman Birnbaum sieht auf den neuen Präsidenten viel Arbeit zukommen - und einen äußerst steinigen Weg.
Britta Bürger: Die Lagebeschreibung lässt sich im Groben sehr klar zusammenfassen: Am Tag der Präsidentenwahl sind die USA ein tief gespaltenes Land und die Wählerinnen und Wähler stehen – folgt man Barack Obama – vor der Entscheidung zwischen zwei grundverschiedenen Gesellschaftsvisionen.

Ob das tatsächlich so einfach ist, werden wir im folgenden Gespräch mit dem Publizisten Norman Birnbaum in New York erfahren. Er wird gern als ein Schlachtschiff der Linken bezeichnet.

Birnbaum ist Jahrgang 1926, war Professor für Soziologie an der Georgetown University in Washington und hat selbst mehrere Präsidentschaftskampagnen der Demokraten unterstützt.

Aufgrund der Zeitverschiebung haben wir ihn gestern Nachmittag in den USA erreicht und ich habe ihn zunächst auf den Wahlkampf angesprochen – darin steckt ja nicht zufällig das Wort Kampf. Hatte dieser Kampf der beiden Kandidaten eine neue Qualität, hat sich im Vergleich zu früheren Wahlkämpfen etwas verändert in puncto Show und Inszenierung, Stil und Kultur der Auseinandersetzung? Norman Birnbaum meint:

Norman Birnbaum: Man konnte wohl sagen, das ist eine Beschleunigung vom Verfall unserer politischen Kultur. Die Presse hat für eine enorme Vereinfachung und Trivialisierung alles getan – das ist nicht neu, aber es hat sich ausgedehnt aufs Internet, mit Zigtausenden von Bürgern, die haben ihre Meinungen ausgedrückt, und so weiter. Das war von einer unglaublichen Niveaulosigkeit.

Bürger: Was genau meinen Sie mit Verfall der politischen Kultur?

Birnbaum: Vereinfachungen überall, besonders, möchte ich sagen, auf der republikanischen Seite. Eine gewisse Missachtung von Wahrheitskriterien und eine Trivialisierung von Themen. Ein Grund dafür ist, was weitgehend unausgesprochen blieb in den Hauptthemen und auf den Medien, nämlich, dass etwa 20 bis 30 Prozent unserer Mitbürger offensichtlich rassistische Vorbehalte gegen Obama haben.

Die werden ausgedrückt in der wahnsinnigen Idee, dass seine Geburtsurkunde in Hawaii vertauscht worden ist, sowohl als auch die Idee, dass er gläubiger Muslim ist, oder noch allgemeiner, Sozialist. Obwohl Sie davon ausgehen können, dass die Menschen, die diesen Begriff benutzt haben, die Marxismus-Texte nicht studiert haben.

Bürger: Sie sprechen diese rassistischen Ressentiments gegenüber Obama an. Hat er denn mit seiner ihm eigenen Noblesse richtig darauf reagiert?

Birnbaum: Ja, er hat eine langfristige Strategie, das war schon ersichtlich, als er vor vier Jahren kandidierte. Kurz gesagt sagte er: Ich bin nicht ein schwarzer Präsident, ich bin der Präsident von allen Amerikanern. Das heißt, er bittet seine Mitbürger, ihn als Mitbürger und nicht als Vertreter der schwarzen Minderheit zu betrachten. Wie jeder weiß, seine Mutter war eine weiße Protestantin aus einer angelsächsischen Familie im mittleren Westen. Wenigstens zur Hälfte ist er nicht schwarz – obwohl er sich in seinem Leben mit der schwarzen Gemeinde identifiziert hat.

Bürger: Es ist jetzt viel die Rede von der Spaltung des Landes, von den Aggressionen zwischen den beiden Lagern in dieser Wahlperiode, die sich verschärft hätten. Sind das denn tatsächlich real vorhandene Gräben oder wurden diese Fronten von den jeweiligen Wahlkampfteams jetzt als so eine Art Showdown inszeniert? Was bleibt davon Ihrer Meinung nach auch nach der Wahl?

Birnbaum: Es bleibt ganz viel, weil das nicht inszeniert ist. Es gibt große kulturelle Unterschiede, zum Beispiel sind etwa 20 bis 30 Prozent der republikanischen Wähler biblische Literalisten, die glauben, dass die Bibel wortgetreu zu nehmen ist. Das sind Leute, die glauben, das etwa die Klimaprobleme erfunden worden sind von Naturwissenschaftlern, die nur Forschungsgelder haben wollen, oder von linken Politikern, die mehr staatliche Kontrolle aufbauen möchten.

Das sind Leute, die keine große Erfahrung von der Welt außerhalb unserer Grenzen besitzen. Romney, der es besser wissen sollte, hat 'Europa' und 'europäisch' zum Beispiel als Schimpfwort benutzt. Und in dieser Hinsicht sind die Europäer mit ihrer Sozialstaatlichkeit und ihrer wohlbekannten Unlust, noch mal Kriege zu führen ein Sinnbild für verschwenderische Feigheit sozusagen. Das glauben viele Leute.

Bürger: Ein tief gespaltenes Land vor der Wahl – wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem amerikanischen Soziologen Norman Birnbaum. Sie haben jetzt eben Sachen beschrieben, die doch stark nach Verschwörungstheorien klingen. Aus deutscher Perspektive ist vieles nicht nachvollziehbar, auch zum Beispiel nicht, warum Menschen, die von Obamas Gesundheitsreform profitieren, am Ende doch dagegen stimmen. Ist der ideologische Einfluss diesmal stärker als bei früheren Wahlen?

Birnbaum: Es ist nicht wenig. Bei unseren Wahlen sind mehr oder weniger klassische Themen durchgebrochen. Man soll nur die Wahlreden von Franklin Roosevelt und seinem Nachfolger Harry Truman lesen – Franklin Roosevelt hat den New Deal erfunden und Truman hat das fortgesetzt –, aber da war es für diese Leute richtig, krasse Themen anzusprechen.

Später gab es eine Phase von Verschleierung, man möchte mehr national sein - das haben beide, Eisenhower, Kennedy und sein großer Gegner Nixon, gemacht. Lyndon Johnson hat für Great Society, die große Gesellschaft, ein sehr, sehr tiefgehendes Projekt unter dem Oberbegriff, die Leute reinzubringen, gemacht. Das heißt, sie sind arm, jetzt machen wir sie zum Mittelständler – und diesen Begriff hat Obama benutzt.

Aber das hat ihm nichts genutzt, Romney und die Republikaner haben immer gesagt haben, er wollte das Geld von gewöhnlichen Leuten nehmen, um es den faulen Armen zu geben. Das hat Romney klipp und klar gesagt mit seiner berühmten 47-Prozent-Bemerkung.

Bürger: Obama hat gesagt, es gehe bei dieser Wahl um zwei unterschiedliche Gesellschaftsvisionen und doch steht ja über beiden eine demokratische Verfassung. Heißt das, in Amerika gibt es zurzeit zwei völlig verschiedene Demokratiekonzepte?

Birnbaum: Mehr oder weniger ja. Oder zwei sehr verschiedene Gesellschaftskonzepte und zwar zwei verschiedene Konzepte davon, was Hauptaufgabe von unserer Regierung ist und wie das ursprüngliche Wesen von unserer Republik zu deuten ist.

Man könnte wohl sagen, dass Obama den Begriff Gemeinschaft benutzt, und Romney Gesellschaft oder sogar Ellbogengesellschaft. Und wohl bemerkt: Wenn Sie rote Staaten sehen - und die sind rot im Sinne des republikanischen Teils von unserer Wahlkarte - wenn Sie rote Staaten sehen, etwa Texas oder zum Teil Florida oder Georgia, was diese netto empfangen vom Bundesgeld, die bekommen mehr als sie Steuern zahlen. Aber das wollen die Leute nicht wahrhaben und gerade in diesen Staaten schimpfen sie über die Regierung, über das Big Gouvernement, dass die Regierung zu viel unternimmt.

Bürger: Nun könnte man auch denken, Wahlkampf ist Wahlkampf, danach tritt so oder so Ernüchterung ein. Beide Kandidaten werden die selben politischen Probleme lösen müssen, allen voran den Schuldenabbau und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Das hat sich ja auch in Obamas erster Amtszeit gezeigt, er ist kein Messias. Was kann, was sollte der neue Präsident am dringlichsten für Amerika tun?

Birnbaum: Es sieht düster aus für eine Art neuem Konsens. Ich stimme mit vielen Leuten überein, dass es wird sehr mühsam sein, auch die notwendigste Legislation durchzubringen, im Sinne von einem großen gesellschaftlichen Konzept.

Wir haben nicht nur Haushaltsdefizit, wir haben Defizit in sozialen Investitionen, Bildung, Gesundheit, Kultur. Wir haben sicher ein großes materielles Defizit, die Leitungen, Straßen, Brücken sind alle erneuerungsbedürftig – Sie brauchen nur den Zug zwischen New York und Washington zu nehmen –, alle diese Dinge werden sehr schwer durchzusetzen.

Ich beneide … Obama ist kritisiert worden, hat wenig gesagt drüber, was er tun würde in der zweiten Amtszeit, wenn er eine hat. Aber Tatsache ist, es ist sehr schwer zu sehen, was er genau tun kann, außer was nicht sehr praktisch scheint, eine Art prominente politische Mobilmachung – dafür sind die gesellschaftlichen Kräfte noch nicht reif.

Bürger: Sagt der Soziologe und Publizist Norman Birnbaum. Haben Sie herzlichen Dank fürs Gespräch, Herr Birnbaum!

Birnbaum: Ja, es hat mich gefreut, wieder mit der deutschen Öffentlichkeit ein bisschen zu reden. Danke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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