"Es muss dabei bleiben, dass jeder Verantwortung für den eigenen Haushalt trägt"

Jean-Claude Juncker im Gespräch mit Gabi Wuttke · 28.10.2010
Die EU berät in Brüssel über eine Reform des Euro-Stabilitätspaktes. Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker hält einen vorläufigen Entzug des Stimmrechts eines Mitgliedsstaates, wie aus Berlin und Paris gefordert, für den falschen Schritt.
Gabi Wuttke: Wie ist der Euro krisensicher zu machen? Darüber wird heute und morgen auf höchster Ebene beraten, zehn Tage, nachdem Angela Merkel den Rückwärtsgang eingelegt und dem französischen Präsidenten die Vorfahrt ließ. Nicht die EU-Kommission soll automatisch, sondern die Finanzminister auch zukünftig im Einzelfall entscheiden, wer für miserable Haushaltsführung sanktioniert wird, wenn es sein muss, mit dem Entzug des Stimmrechts im Ministerrat. Auch dem Vorsitzenden der Euro-Gruppe, Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker, standen ob dieser Abmachung erst mal die Haare zu Berge. Jetzt ist er am Telefon. Guten Morgen, Herr Juncker!

Jean-Claude Juncker: Guten Morgen! Ich bin wieder glattgekämmt.

Wuttke: Das werden wir jetzt gleich hören, denn zusammen hören wir uns an, was Angela Merkel gestern in ihrer Regierungserklärung gesagt hat zum Thema Sanktionen gegen schlimme Haushaltssünder:

"Angela Merkel: "Die Sanktionen werden automatisiert, sowohl in dem sogenannten präventiven Arm als auch beim Defizitverfahren selbst. Das heißt, eine Sanktion kommt, wenn der Rat nicht mit qualifizierter Mehrheit widerspricht.""

Wuttke: Herr Juncker, spricht Angela Merkel hier von einem Automatismus, wie Sie ihn verstanden wissen wollen?

Juncker: Das, was wir in der Van-Rumpoy-Task-Force verabredet haben, geht in Richtung schnellere und automatischere Sanktionen. Ich wünschte mir nur, sie gingen noch automatischer vonstatten. Mir käme es sehr darauf an, dass man den präventiven Teil des Stabilitätspaktes, bevor der Sündenfall vollzogen ist, der Rat der Minister nicht mit qualifizierter Mehrheit der Kommission zustimmen muss bei ihrer Einschätzung, dass ein Mitgliedsland sich divergierend, dem Stabilitätspakt nicht konform verhält, sondern dass wir mit qualifizierter Mehrheit den Vorschlag der Kommission ablehnen. Das wäre noch automatischer. Es wäre einfacher zu bewerkstelligen, weil dies ließe für den reinen politischen Ermessungsspielraum der Minister weniger Raum zu.

Wuttke: Also das heißt, man kann von einem Automatismus gar nicht sprechen, wenn er nicht von Fakten bestimmt wird, sondern eine Frage der Mehrheitsbeschaffung ist – was so ein bisschen so wäre wie ein wenig schwanger, das geht ja auch nicht.

Juncker: Also in Fragen Schwangerschaft kenne ich mich gynäkologisch weniger gut aus als andere.

Wuttke: Aber es ist doch dann de facto kein Automatismus mehr, so wie Angela Merkel es jetzt noch mal betont hat.

Juncker: Der Urvorschlag der Kommission hat darin bestanden, dass die Kommission feststellt, ein Mitgliedsland benimmt sich nicht korrekt, und dann treten Sanktionen sofort ein. Was jetzt auf dem Tisch des Rates liegt, ist ein Vorschlag, der darin besteht, dass die Kommission mitteilt, dass ein Mitgliedsland sich nicht konform verhält, und der Rat der Finanzminister muss dem mit qualifizierter Mehrheit zustimmen. Es wäre besser, weil weniger politischer Ermessensspielraum dann zur Verfügung stünde, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit den Vorschlag der Kommission ablehnen muss. Das wäre automatischer, das wäre griffiger, das wäre bissiger. Aber das, was jetzt vorgeschlagen ist und das, was wahrscheinlich auch Beschlusslage heute Abend sein wird, ist eine Stärkung des Stabilitätspaktes im Direktvergleich mit dem Stabilitätspakt, den wir jetzt haben. Es ist, es wird automatischer – es hätte noch automatischer werden können, und das hätte ich vorgezogen.

Wuttke: Warum, glauben Sie, folgt die deutsche Kanzlerin dem französischen Präsidenten?

Juncker: Ich bin nicht deutscher Regierungssprecher, ich habe verstanden, dass es Frau Merkel vor allem darauf ankommt, dass der Europäische Rat heute oder morgen entscheidet, dass wir uns auf einen permanenten Krisenbewältigungsmechanismus festlegen, der sicherstellen soll, dass wir nicht noch einmal mit dem Rücken zur Wand stehen, wenn ein Griechenland-ähnlicher Vorfall uns in den nächsten Jahren erreichen würde. Und über diesen Vorschlag der Kanzlerin, der nicht nur der Vorschlag der Kanzlerin ist, gibt es auch weitgehendst Einvernehmen. Alle Finanzminister sind der Meinung, dass wir einen derartigen permanenten Krisenmechanismus brauchen. Dort, wo die Meinungen noch auseinandergehen, ist die Frage, ob man dazu eine Vertragsänderung braucht oder nicht. Ich sage von meiner Warte aus: Wenn wir eine Vertragsabänderung brauchen, um eine belastbare Rechtsgrundlage für einen permanenten Krisenmechanismus uns an die Hand zu geben, dann sollten wir eine minimale Vertragsänderung vornehmen.

Wuttke: Inwiefern? Was ist für Sie eine minimale Vertragsänderung?

Juncker: Minimal ist eine leichte Ergänzung des Vertragsartikels, der es uns heute erlaubt, einem Mitgliedsland, das in einer Lage ist, die sie selbst nicht mehr unter Kontrolle hat, finanziell zur Seite gesprungen werden kann. Ich bin strikt dagegen, dass man die sogenannte No-Bailout-Klausel öffnet, das hieße nämlich, dass man dann das Prinzip im Vertrag verankert, dass jeder tun kann, was er will, weil er ja weiß, dass am Ende des Tages ein Krisenauffangnetz zur Verfügung steht, in dem sich sanft landen ließe. Nein, es muss dabei bleiben, dass jeder Verantwortung für den eigenen Haushalt trägt, und nur in außergewöhnlich außergewöhnlichen Fällen, nämlich wenn die Kontrolle über den Haushalt sich der nationalen Regierung entzieht wegen eines externen Schocks beispielsweise, Hilfe angeboten wird. Aber es darf keinen Freifahrtschein gegeben werden, dass jeder zu einem sorgenlosen Umgang mit sich selbst und mit den anderen verführt wird.

Wuttke: Verstehen Sie die Sorge von sehr vielen Bürgern, dass die derzeitige Gemengelage zur Krisenbewältigungskraft der EU nicht gerade vertrauensfördernd wirkt?

Juncker: Ich verstehe schon, dass Viele an den Irrungen und Wirrungen der Debatten der jüngsten Tage Bemängelndes feststellen können. Es wäre einfacher, weil die Dinge kompliziert sind, dass wir uns einfacher ausdrücken. Es geht darum, den Euro stabiler zu machen, deshalb müssen die Sanktionen automatischer werden. Was jetzt in Vorschlag ist, stellt sicher, dass sie automatischer werden. Mir wäre es lieber, sie würden noch automatischer werden. Ich lege großen Wert darauf, dass wir einen permanenten Krisenmechanismus uns an die Hand geben, und ich bin dagegen, dass man einem Mitgliedsland, das sich nicht korrekt benimmt, die Stimmrechte entziehen könnte. Dies hielte ich für einen völlig falschen Schritt.

Wuttke: Klare Worte im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur, Jean-Claude Juncker, der Chef der Euro-Gruppe, luxemburgischer Ministerpräsident. Herr Juncker, besten Dank und schönen Tag, und werden Sie wieder gesund!
Juncker: Ja, das werde ich mit Sicherheit!

Wuttke: Tschüss!

Juncker: Tschüss!