"Es ist ungeheuer redundant"

Moderation: Liane von Billerbeck · 21.02.2008
Dem Sozialpsychologen Harald Welzer bereitet der Roman "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell keinen Lesegenuss. Das über 1000 Seiten dicke Buch sei sehr langatmig und redundant und quäle durch endlose Aufzählungen. Dass das Werk in Frankreich ein Bestseller wurde, erklärt sich Welzer damit, dass die Hauptfigur stark vom Klischeebild eines Nazis abweicht.
Liane von Billerbeck: Wenn der "Spiegel" Hitler auf den Titel setzt, dann kann man dort sicher sein, dass sich die Ausgabe gut verkauft. Noch heute lasse viele Menschen diese Faszination für Hitler nicht los, ja, so schrieb es der Sozialpsychologe Harald Welzer in der "Zeit", "sie scheint mit dem Generationenabstand immer größer zu werden, so groß, dass sich ein junger Autor nun bemüßigt fühlt, all die Taten, Täter und Toten jener Zeit in einer schier endlosen Erzählung aufzulisten".

Gemeint ist der amerikanische Schriftsteller Jonathan Littell und dessen Roman "Die Wohlgesinnten". Sehr viele Franzosen waren von diesem Roman fasziniert. 800.000 Exemplare hat der Verlag Gallimard davon verkauft. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat ihn gelesen. Er leitet die "Forschungsgruppe Erinnerung und Gedächtnis" am Kulturwissenschaftlichen Institut der Uni Essen. Guten Tag!

Harald Welzer: Guten Tag!

von Billerbeck: Sie kennen das Buch. Was hatten Sie sich von dem Buch erhofft?

Welzer: Ja, ich hatte mich eigentlich sozusagen mit ziemlicher Neugier da drauf gefreut, das zu lesen. Ich selber spreche nicht französisch und lese auch nicht französisch und war dann ganz interessiert, als die Druckfahnen kamen der deutschen Übersetzung. Und das hatte gewissermaßen so eine Voreinstellung aufgrund der Diskussionen, die es in Frankreich gegeben hat und auch der Auszeichnung, die das Buch bekommen hat, und so war eigentlich eine positive Erwartungshaltung.

von Billerbeck: Und diese Erwartungshaltung, da Sie jetzt gar nichts weiter gesagt haben, die, vermute ich, ist nicht erfüllt worden?

Welzer: Na ja, die ist nicht wirklich erfüllt worden. Nein, weil das Buch doch ausgesprochen lang ist, was nicht direkt gegen ein Buch sprechen würde. Aber es ist auch eben sehr langatmig, es ist ungeheuer redundant, es wiederholt sich viel, und es gibt endlose Aufzählungen. Man hat dann schon Mühe, nach einigen hundert Seiten sich weiter zu motivieren, da noch weiter vorzudringen.

von Billerbeck: Nun war der Roman in Frankreich aber ein Riesenerfolg. 800.000 Exemplare, das ist ja nicht wenig. Verstehen Sie nach der Lektüre dieses Buches, was so faszinierend daran war?

Welzer: Nein, es war genau das, was ich mich gefragt habe, weil das Buch, muss man sagen, das kann auch in Frankreich nicht anders sein. Die französische Version ist, glaube ich, etwas kürzer. Aber es ist sicherlich kein Buch, was man irgendeiner Weise jetzt goutiert, wo man Freude dran hat, das zu lesen, wo man gespannt darauf ist, wie es weitergeht.

Insofern muss man ja nicht davon ausgehen, dass die 800.000 verkauften Exemplare auch 800.000 gelesene Exemplare sind. Es ist bei solchen Büchern ja häufig der Fall, dass wenn Sie sozusagen ein Skandalisierungspotenzial haben und man viel drüber diskutiert, dass man dann auch haben möchte, mal reingucken und so.

Und ich glaub, die französische Situation ist in zwei Hinsichten von der deutschen zu unterscheiden, und vielleicht ist deshalb das Buch dort auch interessanter, als es hier wäre. Es geht dabei ja in dem Buch zentral um die Selbstbeschreibung eines SS-Obersturmbahnführers, Dr. Max Aue, der im Grunde genommen den kompletten Vernichtungskrieg mitmacht mit allen relevanten Stationen, mit allen relevanten Personen, dem kompletten Personal der Vernichtung, wenn man so will, persönlichen Kontakt hat.

Und was in Frankreich als sozusagen Überraschung und Zynismus vielleicht empfunden wurde, war, dass dieser Täter im Grunde genommen kein Problem damit hat, mit dem, was er getan hat. Es ist ein sehr gebildeter, sehr gediegener Zeitgenosse, der zum Beispiel ohne Mühe fähig ist, sich mit irgendwelchen sogenannten Bergjuden irgendwo im Osten auf Altgriechisch zu unterhalten spontan, so voller Bildung steckt der Mann.

Und man hat wahrscheinlich in Frankreich dieses Bild des gebildeten Täters, der, das ist noch eine besondere Komponente, in dem Fall Halbfranzose ist und auch in der Nachkriegszeit unerkannt in Frankreich lebt, der sozusagen unter ganz normalen Leuten als normaler Mensch lebt, das hat man wahrscheinlich nicht für möglich gehalten. Man ist da wahrscheinlich dem Bild des Nazischergen, des sadistischen Täters oder so was eher verhaftet. Und dann kriegt man plötzlich so jemanden vorgeführt und ist ganz erstaunt, dass auch der Nazitäter alles Mögliche gelesen hat und hoch gebildet ist usw.

von Billerbeck: Dass diese Hauptfigur, dieser Max Aue, eben ein sehr gebildeter Mensch ist, und dass das Bild der Franzosen von den Nazischergen verändert hat, spielt da auch so ein Moment rein, dass da mancher französische Leser gedacht hat, der ist wie ich, ich könnte es gewesen sein?

Welzer: Ja, das ist wiederum auch eine seltsame Sache, weil eigentlich wiederum auch nicht. Aue ist eigentlich hinsichtlich seines Bildungsstandes, seiner Belesenheit, seiner Reflexionsfähigkeit, weicht er wahrscheinlich von dem Klischeebild des Nazis ab. Auf der anderen Seite weicht er vom Klischeebild des verrückten Täters insofern nicht ab, weil er viele sozusagen abnorme Handlungsweisen, Eigenschaften auch hat. Er hat ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Schwester, gleichzeitig ist er homosexuell, gleichzeitig ist dieser Roman ohnehin voll von Gewalt und Sexfantasien jeglicher Art. Und insofern kriegt er natürlich von dieser Seite her, kriegt diese Figur wiederum etwas hochgradig Abnormales, was, sagen wir mal, für den NS-Täter in der Weise natürlich überhaupt nicht typisch ist.

von Billerbeck: Jonathan Littell ist Amerikaner. Und gerade einige amerikanische Autoren der Gegenwart, die haben sich ja angewöhnt, in ihren Romanen unglaubliche Wissensmengen unterzubringen. Richard Powers, Jonathan Frentzen, Jonathan Safran Foer, die Reihe könnte man fortsetzen. Auch Littell hat sehr viel gelesen, um das Buch zu schreiben. Er ist dafür auch gelobt worden, u.a. von Claude Lanzmann. Hilft dieses viele Wissen eigentlich dem Roman?

Welzer: Nach meiner Leseerfahrung gar nicht, sondern ganz im Gegenteil. Das ist zweifellos richtig, dass das überquillt von Wissen, auch von Detailwissen, das Personal der Einsatzgruppenmorde, mit denen ich mich nun ganz gut auskenne, taucht da sozusagen fast vollständig auf usw., usw., Detailwissen, was geradezu ungeheuerlich ist. Das Problem ist natürlich nur, dass Wissen alleine in der puren Addition einen dann als Leser eher fertig macht. Wissen kann ja eigentlich nur dann wirklich sinnvoll eingesetzt werden, wenn man es ordnet, wenn man auch weiß, als Leser weiß, warum einem jetzt etwas erzählt wird. Und hier geht es eigentlich nur von der Erzählstruktur her linear um diese Jahre ab dem Russlandfeldzug, dem sogenannte Barbarossafeldzug, und endet dann halt in einer absurden Szene im Führerbunker, wo aus Gründen, die kein Mensch nachvollziehen kann, der Max Aue, dem Hitler in die Nase beißt. So hört das Ganze dann irgendwie auf.

Aber es ist reine Addition, ungeordnet und im Grunde genommen wie von dem Willen angetrieben, dass alles vorkommen muss. Und das ist natürlich im Grunde genommen eine hybride Vorstellung, weil selbst wenn man den Wunsch hat, dass alles vorkommen muss, und man soll fast alles wissen, kommt natürlich die Welt trotzdem nicht komplett vor. Es ist ja vollkommen unmöglich, auch wenn ein Buch dann 1.400 Seiten lang ist.

von Billerbeck: Jonathan Littell hat einen jüdischen Hintergrund, und der hat sich, so hat er es in einem Interview gesagt, in die Haut eines Nazis hineingleiten lassen. Was ist nun das Ergebnis dieses Hineingleitens?

Welzer: Wenn Sie mich persönlich als Leser fragen, eine große Ratlosigkeit. Mein Nachdenkensergebnis besteht eigentlich darin, dass man vielleicht sagen kann, dass der Erfolg, den dieses Buch in Frankreich gehabt hat, aller Voraussicht nach hierzulande und anderenorts auch haben wird, vielleicht anzeigt, dass unser Umgang mit der Nazivergangenheit in einen neue Stufe gekommen ist, dass es irgendwie ein Kick sein kann, ein leiser Schauer oder auch ein heftiger Schauer, sich in die Innenperspektive eines Nazitäters zu versetzen und den mit den entsprechenden Attributen zwischen Abnormalität und bürgerlicher Gediegenheit zu goutieren. Und dazu muss man halt auch sagen, dass dieser Roman voller gewaltpornografischer Darstellungen ist und insofern auch auf diesem Nazikick und diesem Gewaltkick im Grunde genommen reitet. Und insofern ist es vielleicht einfach eine neue Stufe, wie soll man das sagen, der ästhetisierenden Auseinandersetzung mit dem Holocaust.

von Billerbeck: Von der Faszination für Nazigrößen wie Hitler und Speer war schon die Rede. Wieso bleibt die uns erhalten oder wächst sogar, wie Sie das in Ihrem "Zeit"-Artikel beschrieben haben?

Welzer: Weil ein zentrales Element der nationalsozialistischen Politik die Inszenierung von Politik gewesen ist, die Inszenierung von Größe, die Inszenierung von Monumentalität. Die Außenseite dieser Gesellschaft, dieses Regimes war immer eine extrem wichtige Sache. Und unsere Bearbeitung dieser Vergangenheit zehrt in gewisser Weise natürlich von dem Bildmaterial und von der Erzählung, die dort auch bereitgestellt worden ist. Und es kann natürlich passieren, dass trotz oder vielleicht sogar wegen aller Aufklärung über diese Vergangenheit diese Seite des faszinierenden, dieses großenartigen Grauens, dieses überdimensionierten Verbrechens, dass das nach wie vor irgendwie genau diese Thrillwirkung entfalten kann. Und im weiteren Abstand zu der Vergangenheit geht vielleicht der historische Kernbestand mehr und mehr verloren, und es bleibt die Monumentalität des Grauens am Ende über. Und das sieht man eben an den Verkaufszahlen aller Dinge, die irgendwas mit Hitler und dergleichen zu tun haben. Das ist nach wie vor ziemlich gut.