Es ist noch nicht vorbei

Von Gaby Weber · 20.07.2010
Bis heute tut sich die chilenische Justiz schwer, die Hintergründe um die Skandale der deutschen Sekte "Colonia Dignidad" aufzuklären. Nur der Sektenführer Paul Schäfer wurde bisher verurteilt. Nun aber gibt es weitere Verfahren gegen 20 Mittäter.
Am Empfang des Berufungsgerichtes von Talca warten geduldig die Anwälte, um ihre Schriftsätze abzugeben. Angeklagte, Zeugen und Zuschauer fragen nach Gerichtssälen. Im zweiten Stock soll gegen Paul Schäfer und zwanzig seiner Mittäter wegen fortgesetzten Missbrauchs von Minderjährigen verhandelt werden. Nur Sektenchef Schäfer wurde dafür inhaftiert. Doch seit seinem Tod im vergangenen April sei das Interesse an der Colonia Dignidad versiegt, meint der Nebenkläger, Rechtsanwalt Hernán Fernández:

"Schäfers Mittäter wurden bis zum rechtskräftigen Urteil auf freiem Fuß gesetzt. Für mich stellen sie aber weiterhin eine Gefahr dar."

Amerigo Castro eilt die Treppe empor. Man sieht ihm an, dass er eine wichtige Rolle spielt. Castro ist einer der drei zuständigen Richter. Ein Gerichtsdiener eilt ihm entgegen, nimmt ihm unterwürfig die Akte ab und hält die Tür auf. Warum 14 Jahre nach Anzeigeerstattung die Schuldigen immer noch frei herumlaufen? Castro runzelt die Stirn: "Unsere Gesetzgebung wird nicht für einen Einzelfall gemacht."

Jetzt stehen 20 Mittäter vor Gericht. Die Sache sei umfangreich, 35 Aktenordner mit 30.000 Blättern gebe es. Das könne dauern. Für heute sei die Verhandlung ausgesetzt:

"Wir leben in einem Rechtsstaat. Bald wird das Berufungsgericht sein Urteil sprechen. Dagegen können die Angeklagten noch einmal Einspruch einlegen und danach zum Obersten Gerichtshof gehen. Bis zum letzten Spruch gelten die Angeklagten als unschuldig."

Villa Baviera heißt die in grün-wilder Natur gelegene deutsche Siedlung heute, oberflächlich gesehen ein schlichtes Idyll deutscher Folklore, in dem knapp 300 Menschen leben. Das Nachfolgeunternehmen der Colonia Dignidad gibt sich als Touristenattraktion. Besucher können sich in den einfachen Häusern einquartieren, frei auf dem Gelände herumspazieren. Eine hauseigene Bäckerei produziert Brot für die Supermärkte der Umgebung. Es gibt eine eigene Viehwirtschaft und ein Restaurant.

Der Park der ehemaligen Colonia Dignidad ist von Talca aus bequem über die Panamericana zu erreichen. Ein überdimensionierter Kinderspielplatz mit Schaukeln und Sandkasten lockt Familien, Autofahrern werden überdachte Parkplätze angeboten. Im Gasthaus ist alles ordentlich und sauber. Hier wird geballtes Deutschtum dargeboten, mit karierten Tischdecken, Tropfenfängern, Hirschgeweihen und adretter Bedienung in Tracht.

Am Tresen verkaufen ältere Frauen mit Dutt und Schürze Schwarzbrot, Marzipan und Sauerkraut. Und Wurst aus eigener Schlachtung. Am Wochenende und an Feiertagen ist das Festzelt geöffnet. Das Geschäft läuft gut. Die Portionen sind reichlich und auch für den schmalen Geldbeutel erschwinglich.

"Ich bin von Anfang an da gewesen. Ich habe ja in der Landwirtschaft gearbeitet. Das war in den 80-er Jahren als Strafe. Ich hatte meinen Aufpasser und durfte nur niedere Arbeiten machen wie Kühe füttern, Kartoffeln sortieren, und und und. Und durch meinen Fleiß hab ich mich hochgearbeitet und mein Ex-Chef ist dann abgehauen nach Deutschland 2004, und hat mir das dann übergeben. Ich war ja kein Linientreuer. Ich war ein Gegner von dem alten System. Und bin natürlich dann der Oppositionelle gewesen. Und so wurde ich immer mehr an die Seite gedrängt. Ich war zum Schluss nur noch ein gutes Arbeitselement, aber ich durfte nirgendwo mitreden. Da habe ich alles stehen und liegen lassen und bin abgehauen."

Georg Laube war sechs Monate alt, als er in die Kolonie kam. Von da an bestand sein Leben aus sexuellem Missbrauch, Gehirnwäsche, Drogen, Prügel, Folter und harter Arbeit auf dem Feld. Ausgebildet, bezahlt oder gar sozialversichert wurde er nicht. Heute ist er 48 Jahre alt und mittellos.

Er verließ die Siedlung im letzten Jahr und zog in die Kleinstadt Los Angeles, wo ein anderer Aussteiger lebt, Heinz Kuhn. Der half ihm in den ersten Monaten in Freiheit, denn Laube findet sich nach einem Leben im Zwang in der normalen Welt schlecht zurecht. Dabei ist er auf dem Papier sogar Aktienbesitzer. Denn die Colonia hatte sich, nachdem Schäfer zur Fahndung ausgeschrieben war, in eine Holding verwandelt:

"Die Aktien wurden ja damals aufgeteilt, zu Schäfers Zeiten. Man sieht genau an der Aufteilung, wer wie viel Aktien hat, also wer mehr oder weniger Vertrauen hatte. Nachdem ich raus bin aus der Kolonie, hab ich versucht, meine Aktien zu verkaufen. Hab das angeschlagen in der Kolonie, dass ich meine Aktien verkaufe. Und wir hatten auch schon Käufer dafür. Und die hätten auch gut gezahlt. Und dann haben die alles Mögliche gedreht, damit man ja nicht die Aktien verkauft. Mittlerweile wurden neue Firmen gegründet, ohne unser Wissen, obwohl wir Aktionäre sind. Ganz neue Firmen wurden gegründet.

Ich weiß gar nicht mehr, welche Rechte ich hab. Wir wurden überhaupt nicht benachrichtigt, das war eine ganz kleine Gruppe, die das gemacht hat. Deshalb spreche ich von den Linientreuen und den Jerarca-Kindern. Man wird hier einfach nur vor Tatsachen gestellt. Wir als Aktionäre haben da gar nichts mitzureden, die Firmen gehören jetzt jemand anders, und es hat ganz andere Namen, und das ist, was einem sehr weh tut. Viele sind ganz leer ausgegangen, zum Beispiel meine Schwägerin. Doris Geert, die hat nur zwei Aktien und wurde so gequält früher da drin, als Kind …"

Früher konnten nur die Kinder der Leitungskader die Siedlung verlassen und im Ausland studieren. Alle anderen mussten harte körperliche Arbeit verrichten, von sechs Uhr morgens bis spät in den Abend. So wurde nach den Worten Laubes eine perfekte Klassengesellschaft geschaffen, die bis heute funktioniert.
Auf der Suche nach Unterstützung wandte sich Laube auch an die deutsche Botschaft in Chile:

"Wir haben ihm gesagt, wie sie sich das denken. Sie unterstützen das System weiterhin, sie unterstützen die Täter, und wie sie sich das denken, mit den ganzen Opfern, die schlimmen Opfer, die alle weg sind von da, weil sie es dort nicht mehr ausgehalten haben, die mit nichts auf der Straße stehen, was sie denken, wie das mit denen denn gehen soll. Da sagte er: ja, da müssen Sie klagen! Aber wie soll denn einer so wie ich, die mit nichts, und viele andere, nichts, keinen Pfennig in den Fingern, man lebt doch von der Hand in den Mund, man arbeitet und lebt davon, anfangen zu klagen? Und das ist ja immer Schäfers Stärke gewesen, die Verjährung, die Verjährung, die Verjährung. Das ist zig Jahre her, was soll man da klagen?"

Ein Zivilverfahren anzustrengen, ist für Arme in Chile ohnehin ein fast unmögliches Unterfangen. Prozesshilfe gibt es nicht. Anwälte verlangen viel Geld. Das Justizsystem ist undurchschaubar und die Verfahren dauern ewig. Gegen eine Holding wie die Villa Baviera, die sich die teuersten Anwälte leisten kann, hat ein Mensch wie Georg Laube kaum eine Chance.

Dass nun aus der Siedlung ein Tourismus-Komplex werden soll, wo auf der Speisekarte des Parkrestaurants die Geschichte einer deutschen Aufbauleistung erzählt wird, ist für Aussteiger wie Georg Laube oder Heinz Kuhn unerträglich:

"Auf einem Gelände, wo so viel getrieben wurde, heute Turismo entstehen lassen, da gehört wie auf der ganzen Welt, wo solche Sachen geschehen sind, Buchenwald, Auschwitz und Theresienstadt, da gehört kein Turismo hin. Da gehört eine Ahnentafel hin, wer da alles gelitten hat und gemordet wurde, aber doch kein Turismo."

Seit 50 Jahren ranken sich Gerüchte über Skandale um die Colonia Dignidad. Bei den Opfern der deutschen Sekte handelt es sich nicht nur um Chilenen, die dort während der Militärdiktatur gefoltert worden sein sollen. Es geht auch um etwa 300 deutsche Staatsbürger, die ihrem Anführer Paul Schäfer Anfang der 60er-Jahre nach Südchile gefolgt sind, darunter Kinder eines privaten Waisenhauses der Sekte in Siegburg. Schon damals ist gegen Schäfer in Deutschland wegen Kindesmissbrauchs ermittelt worden. Er entzog sich einer Anklage durch Flucht nach Chile, wo ihn niemand behelligte und gründete dort die Colonia Dignidad, die Siedlung der Würde. Jetzt stehen weitere Mitglieder der alten Führungsriege in der nahe gelegenen Stadt Talca vor Gericht.

Derzeit gleicht der Ort einer einzigen Baustelle. Kaum einer der Lehmbauten hielt den Erdstößen stand, die Ende Februar die Region erschütterten. Die gesamte Innenstadt von Talca wurde zerstört. Der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Immerhin wurde das Berufungsgericht von dem Erdbeben, das Talca mit einer Stärke von 8,8 Grad getroffen hat, verschont. Deshalb kann dort weiter gearbeitet werden.

Die Folgen des Erdbebens beherrschen bis heute die Schlagzeilen der Presse. Auch deshalb ist das Berufungsverfahren gegen die Führungskräfte der Colonia Dignidad zur kaum gelesenen Randnotiz in der Lokalpresse geworden.

Nicht einmal bei der Kriminalpolizei in Talca weiß man von dem Prozess. Dabei hat dort Margarita Fernández als Kommissarin jahrelang wegen Kindesmissbrauchs gegen die Colonia Dignidad ermittelt. Heute ist sie pensioniert, wohnt aber gleich um die Ecke des Reviers. Sie kommt aus der Gegend und wie die meisten Menschen hier wusste sie von den Gerüchten gegen den Leiter der deutschen Sekte, Paul Schäfer. Doch niemand traute sich, gegen ihn und seine Leute vorzugehen. Die Deutschen schienen allmächtig. Doch dann erstattete die Großmutter eines in der Kolonie lebenden Jungen Strafanzeige wegen Kindesmissbrauchs. Das war im Jahr 1996, erinnert sich Margarita Fernández:

"Die Mutter wollte ihren Sohn aus der Kolonie holen, aber die gab ihn nicht heraus. Kinder haben uns schließlich erzählt, wer in der Colonia Dignidad vergewaltigt wurde. Am Ende hatte ich zwölf missbrauchte Kinder, deren Verletzungen Gerichtsmediziner in Santiago attestierten. Auf die Ärzte der Umgebung wollte ich mich nicht verlassen. Es gab sicher mehr als zwölf Opfer, aber viele wollten keine Anzeige erstatten."

Der ehemaligen Kommissarin ist die Bitterkeit anzumerken. Sie und ihre Kollegen haben ihre Arbeit ernst genommen. Doch ihre Ermittlungen wurden immer wieder behindert:

"Vor jeder Durchsuchung waren die Mitglieder der Siedlung informiert. Sie erwarteten uns. Sie waren sehr freundlich und öffneten alle Türen. Wir entdeckten eine Überwachungsanlage, die als Bienenstock getarnt war. Aber von wo aus überwacht wurde, konnten wir nie herausfinden."

Trotzdem sammelte die Kriminalpolizei von Talca genügend Beweismaterial gegen Schäfer und seine Mittäter - jedenfalls, was den Missbrauch der Kinder angeht. Und nur das war ihr Job, erzählt die Kommissarin. Alle anderen Vorwürfe, die gegenüber der deutschen Sekte erhoben wurden, wie Schiebereien, Folter und Mord im Dienste des chilenischen Diktators Pinochet fielen nicht in die Zuständigkeit der örtlichen Polizei.

Schon 1966, nach dem ersten Fluchtversuch eines Jugendlichen, wurde eine parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt, die die Vorgänge in der Colonia Dignidad beleuchten sollte. Als aber nach dem Militärputsch 1973 Diktator Pinochet und seine Geheimdienstchefs in der Siedlung ein- und ausgingen, konnte niemand mehr ernsthaft gegen die Sekte vorgehen. Erst als der Andenstaat 1990 demokratisch wurde, gab es einen neuen Untersuchungsausschuss.

Die meisten Opfer der Sekte sind nicht entschädigt worden, weder materiell noch moralisch. Erst im vergangenen März hatte der neue Präsident Sebastián Piñera den Großbauern aus Los Angeles, José Stegmeier, zum Gouverneur der Region ernannt, obwohl Stegmeier zum Freundeskreis der Colonia Dignidad gehört und für sie Geld gewaschen haben soll. Verurteilt wurde er dafür allerdings nicht - trotzdem musste Präsident Piñera die Berufung zurücknehmen. Die ehemalige Kommissarin Fernández erinnert sich im Zusammenhang mit der Colonia Dignidad gut an den Landwirt:

"Bei der Fahndung nach den missbrauchten Kindern führte die Spur zu Stegmeier. Wir fanden sie bei ihm. Er sei Freund der Kolonie, sagte er, und lasse die Kinder hier lernen, weil sie das in der Siedlung nicht könnten."

Zwei der missbrauchten Kinder sind inzwischen tot. Ebenso zwei der Mittäter, deren Auslieferung nach Chile die Bundesrepublik abgelehnt hatte, sagt der Opferanwalt Fernández. Er fordert, dass die Regierungen in Santiago und Berlin ihre Verantwortung für die Opfer übernehmen:

"Jetzt, wo wir durch die Prozesse hier in Chile die Wahrheit herausfinden und Gerechtigkeit herstellen können, gehen die Zeugen nach Deutschland, weil sie dort Sozialhilfe bekommen und hier keine Möglichkeit zum Überleben haben. Das behindert die Ermittlungen. Man spielt auf Zeit und hofft, dass die Opfer irgendwann Ruhe geben. Wir stehen nach wie vor mächtigen Interessen gegenüber, die vertuschen wollen, wer intellektuell und moralisch für diese Verbrechen verantwortlich war."
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