"Es ist ein sehr eingeschränktes Leben"

Andreas Kopf im Gespräch mit Andreas Müller · 18.03.2010
Für eine halbe Million Menschen in Deutschland ist der Schmerz ein ständiger Begleiter. Anlässlich des Schmerz- und Palliativkongresses in Frankfurt erklärt der Mediziner Andreas Kopf, wie Betroffene Überlebensstrategien entwickeln können.
Andreas Müller: Bei mir zu Gast ist jetzt Dr. Andreas Kopf, der Leiter des Schmerz- und Palliativzentrums an der Berliner Charité. Schönen guten Tag!

Andreas Kopf: Ja, guten Tag!

Müller: Wir haben gerade gehört, was Frida Kahlo entsetzliche Schmerzen bereitete, man muss das aber, glaube ich, noch mal genauer erklären: Viele Menschen leiden bei uns an chronischen Schmerzen, deren Zahl geht in die Millionen, und eine halbe Million haben Schmerzen, die das Leben bisweilen recht erheblich beeinträchtigen. Ist das richtig?

Kopf: Ja, das ist richtig. Frida Kahlo ist ein gutes Beispiel dafür, dass jemand einen Schmerz hat, der sein ganzes Leben betrifft. Also das hat nicht nur etwas zu tun, dass ich sage, mein Bein tut mir halt immer wieder weh, weil ich einen Hüftschaden habe, sondern es betrifft meine Kommunikation mit der Umgebung, es betrifft, wie ich auf der Arbeit zurechtkomme und viele andere Dinge auch mehr.

Müller: Bei Kahlo wissen wir, das war Polio als Kind, dann dieser schwere Unfall natürlich, dieser entsetzliche Unfall, das sind natürlich ganz klar sichtbare und auch verständliche Ursachen für Schmerzen, aber was gibt es noch für Ursachen, die diesen unglaublichen Schmerz, den ja viele Menschen wirklich empfinden, auslösen?

Kopf: Ja, also es gibt Schmerzen, bei denen gar keine Ursache, die man so normalerweise kennt, wie Knochenbrüche, Nervenverletzungen oder Ähnliches vorliegen muss. Frida Kahlo hatte alle diese Verletzungen, auch nachweisbar, durch diesen schweren Straßenbahnunfall, aber wir wissen heute, dass Menschen auch unter stärksten Schmerzen leiden können, ohne dass es nachweisbare Gründe gibt. Das heißt, wir wissen, dass wir ihnen glauben können und haben deswegen den Begriff der Schmerzerkrankung oder des chronifizierten Schmerzens geprägt, um dieses Phänomen zu erklären.

Müller: Wie leben die Menschen damit?

Kopf: Es ist ein sehr eingeschränktes Leben, da es eben alle Äußerungen betrifft. Da ist die Beziehung zur Familie, am Arbeitsplatz beeinträchtigt, es hat etwas damit zu tun, wie ich mir Aufgaben vornehme, ich schaffe sie dann nicht mehr, Dinge erscheinen mir schwer.

Das weist schon darauf hin, dass es eben mehr ist als nur eine Nervenerregung, sondern eben etwas ist, was den ganzen Körper und die Seele betrifft. Und deswegen sagen wir auch, Schmerzerkrankung ist immer etwas, was mit dem Körper, mit meinen familiären, sozialen Kontakten und mit der Seele zu tun hat, also ein bio-psycho-soziales Konfliktfeld.

Müller: Frida Kahlo malte unter anderem ein Schmerztagebuch, so hat sie das genannt, um nicht wahnsinnig zu werden. Welche Bewältigungsstrategien schlagen Sie vor?

Kopf: Da es sich um ein Syndrom, um eine Erkrankung handelt, bei der verschiedene Ursachen zusammenwirken, muss auch die Behandlung von verschiedenen Seiten kommen. Das heißt, das, was bei einem Patienten mit einer Tumorerkrankung sehr gut hilft oder nach einer Operation – ein Schmerzmittel, vielleicht ein morphinartiges Schmerzmittel –, hilft bei solchen Schmerzerkrankungen meist wenig, meist sogar gar nicht.

Das heißt, man muss hier eher versuchen, mit dem Patienten zusammen Wege zu finden, wie kann ich lernen, mit dem Schmerz besser umzugehen. Dazu gehören psychologische Techniken, Entspannungstechniken, Verhaltenstherapie, dazu gehören bestimmte Körperübungen – alles, was das Leben, die Toleranz von Schmerzen verbessert.

Müller: Kann Schmerz eigentlich auch zu einer kreativen Triebkraft werden, also mehr oder weniger sogar positive Aspekte haben?

Kopf: Ich denke, dass Frau Kahlo nicht ein typisches Beispiel ist, denn man kann sich gut vorstellen, dass die Veränderungen, die mit ständigen Schmerzen einhergehen, der Rückzug, wenig Kontakt zu haben mit der Umwelt, damit natürlich auch wenig Anregung zu haben, eher zum Gegenteil führt, eben eher zu jemandem, der ein sehr reduziertes Leben führt.

Frau Kahlo hat hier das Glück gehabt, dass sie aufgrund ihrer ja schon vorher bestehenden künstlerischen Neigungen hier einen Weg gefunden hat, darüber noch mit der Welt zu kommunizieren, aber das ist ein Glücksfall, ein Glück im Unglück und glaube ich nicht eine typische Strategie. Leider.

Müller: Ist der Schmerz eigentlich universell, wird er auf der ganzen Welt gleich empfunden, oder gibt es kulturelle, soziale Einflüsse, die seine Wahrnehmung beeinflussen?

Kopf: Wenn Sie sich einen Nerven angucken und nachschauen, wie reagiert er auf einen Schmerzreiz, so ist das weltweit praktisch identisch, da gibt es keinen Unterschied. Aber unsere kulturelle Prägung, die Art, wie wir aufwachsen, die Art, wie die Umgebung auf Schmerzen reagiert, lässt uns lernen, auf unterschiedliche Art und Weise Schmerz zu demonstrieren, darzustellen nach außen und eben auch in der Interaktion zu benutzen oder auch nicht zu benutzen.
Das heißt, die subjektive Wahrnehmung von Schmerzen ist äußerst unterschiedlich, interindividuell und zwischen Gesellschaften und Kulturen, aber die eigentliche Schmerzwahrnehmung im Sinne einer Nervenerregung ist identisch.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur zu Gast ist Andreas Kopf, er leitet das Schmerz- und Palliativzentrum an der Berliner Charité. Was machen Sie eigentlich dort genau?

Kopf: Wir haben dort ein Schmerzzentrum – Zentrum ist ein sehr modisches Wort heute –, was sich letztendlich dahinter verbirgt, ist, dass wir Patienten unterschiedlicher Erkrankungen behandeln. Das sind Patienten, die nach Operationen unseren Beistand brauchen aufgrund von Schmerzen, es sind Patienten mit diesen chronischen Schmerzerkrankungen, die wir schon angesprochen haben – Rückenschmerz, Kopfschmerz und Ähnliches –, aber genauso begleiten wir auch Tumorpatienten, auch an ihrem Lebensende, versuchen unangenehme Wahrnehmungen wie Schmerz, Übelkeit, Angst mit ihnen in ein erträgliches Maß zurückzuführen. Das ist das, was unsere tägliche Arbeit ausmacht.

Müller: Was haben die Menschen eigentlich früher gemacht? Also bis Mitte des 19. Jahrhunderts gab es ja, also wenigstens bei uns, in unserem Kulturkreis, kein wirklich hochwirksames Narkose- oder Schmerzmittel. Wie war das früher?

Kopf: Ja, es gibt tatsächlich Philosophen, die sich darüber Gedanken gemacht haben, ob nicht das Versprechen der schmerzfreien Gesellschaft durch die ubiquitäre Vorhandensein von Schmerzmitteln, von Narkosemitteln und Ähnlichem vielleicht nicht auch ein Problem sein könnte. Das heißt also, dass wir es unter Umständen verlernen könnten, mit Schmerz umzugehen, denn wir hatten Millionen Jahre Zeit, gezwungenermaßen, Schmerzen gut tolerieren zu müssen.

Die Vorstellung jedoch, dass dies damals einfach gelungen ist, ist nur aus der heutigen Sicht, glaube ich, gerechtfertigt. Sieht man sich einfachere Kulturen an, die in außereuropäischen Ländern leben, und führt dort Befragungen durch – einige Medizinethnologen haben das gemacht –, so findet man, dass es dort ebenso Menschen gibt, die erheblich leiden, es wird nur nicht nach außen so dargestellt, sie werden oft an den Rand der Gruppe gedrängt.

Das heißt, es ist, glaube ich, kein Privileg gewesen, vor 100 Jahren gelebt zu haben. Umgekehrt haben wir aber auch heute unsere Probleme, weil möglicherweise doch diese viele, das intensive Beschäftigen mit Schmerzen dazu führt, dass man vielleicht doch auch ein klein wenig mehr wahrnimmt, als man es sonst wahrnehmen würde.

Müller: Es ist natürlich eine Menge passiert in den letzten 150 Jahren, aber gibt es ein grundlegendes Problem, das immer noch gelöst werden muss, also der entscheidende Schmerzstiller, ist der gefunden oder muss er noch gefunden werden?

Kopf: Das ist im Grunde genommen ein bisschen enttäuschend. Also wenn ich zurückschaue, was wir an Medikamenten haben, so ist das Medikament, was immer noch den größten Nutzen für uns und unsere Patienten, bringt, die morphinähnlichen Mittel, die Opioide. Sind 1824 auf den Markt gekommen, man kann also nicht von einer neuen Substanz an Durchbruch sprechen.

Auf der anderen Seite ist es so, dass die Grundlagenforschung, die auch bei uns an der Charité gemacht wird, zeigt, welche Mechanismen genau erzeugen Schmerz, wie wird der Schmerz unterhalten. Wir wissen unglaublich viel darüber, leider fehlt der letzte Schritt, dieses Wissen aus der Grundlagenforschung in die Praxis zu übersetzen.

Deswegen von der Sache, die ich mir am meisten verspreche im Moment, ist, dass wir das Wissen, was wir jetzt haben, konsequent anwenden. Deswegen auch unsere Initiative, in der Lehre bereits jedem zukünftigen Allgemeinarzt ein Basiswissen zur Schmerztherapie zu vermitteln, um einen großen Teil der Bevölkerung zumindest eine ausreichende Schmerztherapie zu ermöglichen.

Müller: Also in der Breite muss noch mehr passieren, heißt das?

Kopf: Genau. Das heißt, es geht uns mehr um die allgemeine Schmerztherapie und nicht darum, spezielle Schmerztherapeuten, das was wir beispielsweise sind, mehr zu produzieren, sondern wir wollen eher es in die Hausarztpraxis tragen, weil wir glauben, dass ein Großteil der Patienten dort bereits ausreichend behandelt werden könnte. Das gilt erst recht für Länder außerhalb von Westeuropa, wo wir auch entsprechende Initiativen haben, Schmerztherapie zu vermitteln.

Müller: Das war Dr. Andreas Kopf. Er leitet das Schmerz- und Palliativzentrum an der Berliner Charité. Vielen Dank fürs Kommen!
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