"Es hat am politischen Willen gefehlt"

Renate Jaeger im Gespräch mit Jürgen König · 13.09.2010
Der deutsche Gesetzgeber muss einen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren einführen, entschied nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Man sei "ungeduldig geworden", sagt Richterin Renate Jaeger, weil trotz der Anmahnung von 2006 "nichts geschehen" sei.
Jürgen König: 1993 war es, da beantragte ein Mann, der ein Personenschutzunternehmen betreibt, die Neuausstellung seines Waffenscheines. Dieser Antrag wurde vom zuständigen Landkreis abgelehnt, der Mann legte Widerspruch ein, dieser wurde abgewiesen, dagegen wurde wiederum Klage erhoben und so weiter. Insgesamt 13 Jahre dauerte dieses Verfahren. Im November 2006 wurde Beschwerde am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt und über diese Beschwerde erging jetzt Anfang September das Urteil.

Deutschland muss dem Kläger 10.000 Euro Entschädigung bezahlen, weil über seinen Fall nicht, wie es die Europäische Menschenkonvention ausdrücklich vorsieht, innerhalb angemessener Frist verhandelt und entschieden worden sei. Und die Richter verurteilten Deutschland dazu, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauern einzuführen. Zu den Richtern, die dieses Urteil gefällt haben, gehört Renate Jaeger. Seit 2004 schon ist sie Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Frau Jaeger, ich grüße Sie!

Renate Jaeger: Guten Tag!

König: Ohne jetzt zu sehr in die Details zu gehen: Wer genau hat im beschriebenen, vorliegenden Fall nicht innerhalb angemessener Frist verhandelt und entschieden?

Jaeger: Deutschland. So sehen wir das, denn wir nehmen Deutschland als internationales Gericht pauschal dafür in Haft, was in Deutschland geschieht. Es kommt für uns im Einzelnen nicht darauf an, ob das Verwaltungsbehörden oder Gerichte sind.

König: Gestatten Sie mir die allgemeine Frage, weil jeder Hörer wird sie sich stellen: Warum dauern manche Prozesse in Deutschland so lange, dass man es beim besten Willen nicht mehr verstehen kann?

Jaeger: Das weiß man nicht. Deutsche Richter verteidigen sich damit, dass die durchschnittlichen Verfahrensdauern relativ kurz sind, aber für einen Einzelnen ist natürlich uninteressant, dass 1000 Fälle sehr schnell entschieden werden, wenn seiner 13 Jahre braucht. Und natürlich sieht da Deutschland dann immer noch sehr gut aus. Man kann es nicht wirklich festmachen, es gibt Fälle natürlich, das wissen wir alle, dass irgendjemand krank ist, nicht rechtzeitig ersetzt wird; wir wissen, dass in manchen Situationen die Gerichtsbarkeit unterbesetzt ist – eine Sache, die im Zusammenhang mit Hartz IV ausführlich diskutiert worden ist auch in der Presse, darüber weiß eigentlich jeder Bescheid, dass die Fälle zu lange dauern, weil man gar nicht darauf vorbereitet war, dass so viele Prozesse anhängig gemacht werden. Aber in anderen Situationen kann man nichts Konkretes finden.

König: Sie waren, Frau Jaeger unter anderem Richterin am Sozialgericht in Düsseldorf, Sie waren Vorsitzende Richterin beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, waren Richterin am Bundesverfassungsgericht, waren Richterin am Bundessozialgericht. Will damit sagen, Sie kennen sich richtig aus. Mutmaßen Sie doch mal, woran liegt es eher: An einzelnen Personen vielleicht auch, oder sind das strukturelle Plagen?

Jaeger: Das gibt es immer beides. Natürlich kann es in einzelnen Fällen an Personen liegen und ich will mich davon auch nicht ausnehmen, es gibt den einen oder anderen Fall, den auch ich sehr zögerlich bearbeitet habe, und habe geglaubt, dafür gute Gründe zu haben, und manchmal könnte ich sie sogar nachträglich noch dingfest machen. Aber in aller Regel würde ich sagen bemühen sich alle Richter, die Dinge zügig zu erledigen, und trotzdem ist das schwierig. Und es kann auch daran liegen, dass sich Prozessbeteiligte so verhalten, dass es schwierig wird, zügig zu arbeiten: Sie kommen nicht zu den Terminen, sie stellen Befangenheitsanträge, sie stellen eine Menge – lassen Sie mich das so ausdrücken – unsinnige Beweisanträge, aber die müssen ja alle behandelt werden. Das verzögert, und wenn dann die Stimmung innerhalb eines Prozesses schlecht ist, dann kommen sogar viel leichter Verfahrensfehler vor, was dann wiederum zu Aufhebungen und Zurückverweisungen führt, und das verlängert natürlich ein Gesamtverfahren enorm.

König: Ja. Lässt sich eingrenzen, welche Gerichte von diesen Verhältnissen in besonderem Maße betroffen sind?

Jaeger: Das wechselt. Das ist sehr deutlich. Eine Zeit lang war die Verwaltungsgerichtsbarkeit komplett überlastet wegen der Asylverfahren. Da gab es natürlich aus diesem Bereich des Ausländerrechts zu lange Verfahren. Ich hab Ihnen gerade die Sozialgerichtsbarkeit und Hartz IV genannt. Es gibt Zielgerichte, wo frei werdende Richterstellen nicht nachbesetzt werden, weil die Länder am Geld sparen.

König: Ja.

Jaeger: So sind das verschiedene Gründe, manchmal kennt man den Hintergrund, manchmal kennt man ihn nicht, wenn man hier in Straßburg urteilt.

König: Also oftmals zu wenig Personal …

Jaeger: Ja!

König: … an den Gerichten, ich vermute auch, zu viele Klagen, Klagen auch zum Beispiel in Bagatellangelegenheiten?

Jaeger: Ja gut, die Konvention garantiert ja sogar jedem europäischen Bürger ein Gerichtsverfahren praktisch in jeder Frage.

König: Kann man eine Tendenz feststellen, dass Deutsche immer mehr dazu neigen, Streitfragen durch Gerichte klären zu lassen?

Jaeger: Das war schon immer so, Deutschland ist ein Land mit sehr streitfreudigen Bürgern.

König: Auch Politiker ziehen ja immer öfter wegen verschiedenster Streitfragen vor das Bundesverfassungsgericht.

Jaeger: Ja. Das ist so. Und den einen Tag schimpfen sie noch, dass das Gericht sich zu sehr in politische Angelegenheiten einmischt, und am nächsten Tag bringen sie einen Antrag ein, ja.

König: Ja, ich hab einige Beispiele genannt, wie viele solcher überlangen Prozesse sind anhängig?

Jaeger: Oh wir haben im Augenblick über 50, es können inzwischen auch von 60 sein. Wir hatten immer einen hohen Anteil überlanger Verfahrensdauern gegen Deutschland im Bereich der zulässigen Beschwerden gegen Deutschland. Das hat zugenommen, eine Zeit lang ist sehr viel mit wir sagen "friendly settlements", im Deutschen würde man Vergleichen sagen, da hat sich die Bundesregierung mit den Betroffenen verglichen, hat anerkannt, dass das wohl zu lange war, und bestimmte Summen gezahlt. Aber der Gerichtshof – und das kann man dieser Pilotentscheidung ja auch entnehmen – ist ungeduldig geworden. Denn das erste Mal ist in der Sache Sürmeli angemahnt worden, dass es an Rechtsmitteln fehlt in Deutschland, und das ist 2006 gewesen, also jetzt vier Jahre her. Und es ist nichts geschehen, wir haben immer noch kein Rechtsmittel, wir haben immer noch kein Recht auf Schadensersatz.

König: Nun hat ja die Bundesregierung immerhin schon einen Gesetzentwurf vorgelegt, dass bei überlangen Verfahren eine Entschädigung in Höhe von 1200 Euro im Jahr als Richtwert gezahlt werden muss, wenn das Gericht zuvor in Form einer Rüge auf die Verzögerung hingewiesen wurde. Ist das sinnvoll, ausreichend? Sicher nicht.

Jaeger: Also erstmal muss ich sagen, es hat schon mal einen Gesetzentwurf gegeben von der vorigen Bundesregierung. Aber aus dem ist kein Gesetz geworden, sodass ein reiner Entwurf einer Regierung uns noch nicht sehr zufriedenstellt. Das Zweite: Man hat sich denke ich viele Gedanken darum gemacht, wie man den Vorhaben des Gerichts Rechnung tragen kann. Ich finde das Junktim – also diese Verbindung zwischen: Erstmal soll der Beschwerdeführer schon mal gesagt haben, mir geht das hier zu langsam, damit die Richter gewarnt sind, und dann erst kann man Schadensersatz verlangen –, das scheint mir ganz sinnvoll. Damit das nicht so aus der Hüfte geschossen kommt.

Denn es gibt natürlich auch Kläger, die durchaus ein Interesse haben, dass ein Verfahren lange dauert. Also wenn jemand ein Disziplinarverfahren am Hals hat, und muss befürchten, dass er wirklich disziplinarisch belangt wird, können wir kaum annehmen, dass er aktiv daran mitwirkt, dass das möglichst schnell geschieht. Wenn jemand Steuern nachzahlen muss, ist er auch nicht besonders interessiert, dass das Verfahren schnell geht. Also ich will nur mal Beispiele nennen. Es ist nicht immer so, dass die Individualpersonen ein großes Interesse an Geschwindigkeit haben. Deshalb sollen sie, wenn sie das doch haben, das auch deutlich machen vorher.

König: Verstehe. Aber generell sagen Sie, sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon, die deutsche Justiz, die Mühlen der deutschen Justiz mahlen viel zu langsam?

Jaeger: Mahlen in den Fällen, die wir hier hatten, zu langsam, und wir sehen etliche von diesen Fällen und vor allem wir sehen nicht, dass man versucht, innerstaatlich ein Rechtsmittel einzuführen, das uns hier in Straßburg entlastet. Denn dieses Straßburger ist ja kein Gericht, das für den Normalfall arbeitet. Ein internationales Gericht ist ein subsidiäres Gericht. Subsidiär bedeutet, wir kommen erst dran, wenn zu Hause alles versagt hat. Und wir sollen auch vorher nicht. Also die Verantwortung ist in erster Linie innerstaatlich, da soll sie bleiben.

König: Ja, ich hab mich auch gewundert, als ich jetzt von diesem Urteil erfuhr, dass in Straßburg über die deutsche Justiz ein Grundsatzurteil – ein Piloturteil, wie es heißt – gefällt wurde. Weil man eigentlich denkt, das, wie Sie es sagen, das können wir doch alleine regeln, da brauchen wir doch nicht den Menschenrechtsgerichtshof für!

Jaeger: Und es stimmt auch, Deutschland kann das auch allein regeln. Es hat am politischen Willen gefehlt. Am politischen Willen nicht nur im Parlament, sondern auch bei den Verbänden, die angehört worden sind. Die Richter haben gesagt: "Ach wir arbeiten doch in aller Regel ganz gut und wir brauchen so was nicht, die paar Fälle soll doch mal Straßburg machen." Die Anwälte haben gesagt: "Wenn wir da immer rügen müssen, dann verärgern wir die Gerichte nur, das kann für unsere Mandanten nicht gut sein." Das sind alles Argumente, die ich persönlich in Anhörungen gehört habe, also nicht etwas, das ich mir jetzt ausdenke.

König: Deutschland wurde jetzt dazu verurteilt, wie es heißt, unverzüglich einen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauern einzuführen spätestens innerhalb eines Jahres nach Rechtskraft dieses Urteils. Welche Wirkung trauen Sie diesem Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte zu?

Jaeger: Also ich bin im Prinzip positiv gestimmt. Das liegt einmal daran, dass unsere jetzige Justizministerin hier im Europarat gearbeitet hat, das heißt sie kennt hier …

König: Frau Leutheusser-Schnarrenberger.

Jaeger: … ja. Sie hat hier gearbeitet, sie hat hier in Ausschüssen mitgewirkt, sie weiß, dass dieses Gericht nötig ist und Unterstützung braucht, das hat sie auch bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt. Sie ist also prinzipiell bereit, so was auch umzusetzen. Mit dem Urteil hat sie jetzt gegenüber den Verbänden und gegenüber dem Parlament auch so was wie eine Waffe in der Hand, kann man doch sagen. Sie muss nicht mehr sagen, also ich finde, es wird jetzt Zeit, dass wir was machen. Sie kann sagen, der Gerichtshof hat die Geduld verloren. Das hilft doch manchmal.

König: Deutschland ist vermutlich kein Einzelfall. Wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus?

Jaeger: Oh wir haben überlange Verfahrensdauern praktisch von überall. Aber der Unterschied ist, seit vielen Jahren hat Italien mit dem sogenannten Pinto-Gesetz genau diese Beschwerdemöglichkeit und die innerstaatliche Abhilfe geschaffen. Dasselbe kann man unter anderem später für die Tschechei sagen, wo das scheint's sehr effektiv läuft. Das heißt also, andere Staaten haben früher die Konsequenzen gezogen.

König: Und das wäre als Beispiel für unser Land auch nötig?

Jaeger: Ja, ja, genau das. Es geht nicht nur darum, dass in Einzelfällen es zu lange dauert, es geht vor allem darum, dass der Bürger allein gelassen ist, und wenn es zu lange gedauert hat, eigentlich überhaupt keine andere Möglichkeit hat, als nach Straßburg zu gehen. Das ist das Entscheidende.

König: Deutschland muss unverzüglich einen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauern einführen. Ein Gespräch mit Renate Jaeger, sie ist Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Frau Jaeger, ich danke Ihnen!

Jaeger: Ja!