"Es gibt ja gar keine Kinderbücher"

Moderation: Gabi Wuttke · 13.10.2006
Am 14. Oktober 1926 erschien die erste Geschichte von Winnie the Pooh. Den großen Erfolg des Buches führt der Schriftsteller und Übersetzer Harry Rowohlt darauf zurück, dass der eigentliche Autor ein Kind war. Alan Alexander Milne habe nämlich seinen Sohn beim Spielen belauscht und die Geschichten aufgeschrieben, sagte Rowohlt.
Gabi Wuttke: Ein Bär von geringem Verstand, ein ängstliches Ferkel, eine altkluge Eule, ein depressiver, immer schlecht gelaunter Esel, ein Kaninchen mit harter Schale, aber weichem Kern, ein harmloser Tiger und natürlich Christopher Robin, der kleine Junge, der mit diesen Tieren im 160-Morgen-Wald Abenteuer erlebt. Am 14. Oktober 1926 erschien die Geschichte, die Alan Alexander Milne aufgeschrieben hat, zum ersten Mal. Auch schon fast 20 Jahre ist es her, dass Harry Rowohlt Winnie the Pooh neu ins Deutsche übersetzt hat. Jetzt ist er am Telefon in Hamburg, guten Morgen.

Harry Rowohlt: Moin, moin.

Wuttke: Gesetz dem unwahrscheinlichen Fall, jemand hätte noch nie was Pu dem Bären gehört und gelesen und entsprechend niemals den 160-Morgen-Wald betreten, wie würden Sie ihm diesen Wald und diese Umgebung beschreiben?

Rowohlt: Ja, das ist so ein bisschen schwierig, wenn ich so was könnte, wäre ich selbst Schriftsteller geworden und nicht nur Übersetzer, das ist halt die Privatwelt eines kleinen Jungen. Der Autor Alan Alexander Milne schrieb Satiren für den den Punch und Salonkomödien mit missglücktem dritten Akt, weil am Ende des zweiten Aktes die beiden Liebenden sich immer schon kriegten und im dritten Akt wusste er dann nicht mehr, was er mit denen anfangen soll und dann belauschte er seinen Sohn Christopher Robin Milne, wie der mit seinen Stofftieren spielte und brachte das in Prosaform und schenkte ihm dann später ganz gezielt neue Stofftiere, um ihn weiter belauschen zu können. Der eigentliche Autor ist nämlich Christopher Robin Milne, der mit dem großen Erfolg dieser Bücher auf einen Schlag zum populärsten Kind der gesamten englischsprachigen Welt wurde, worunter er zeitlebens litt.

Wuttke: Sie haben ihn ja selbst persönlich kennen gelernt.

Rowohlt: Nein.

Wuttke: Nicht?

Rowohlt: Nein, er hat sich geweigert, sich interviewen zu lassen. Er hat gesagt, er hat keine Lust den verbitterten alten Mann zu spielen, der er in Tat war.

Wuttke: Das heißt, er hat es nie wirklich verwunden, dass er immer auch als erwachsener Mann der kleine Junge geblieben ist, der seinen Bären hinter sich hergezogen hat, die Treppe hoch, die Treppe runter.

Rowohlt: Genauso, ja, und er war ein sehr guter Tischler und hatte eine schwerstbehinderte Tochter und weil seine Mutter ihn seltsamer Weise enterbt hat und ja dann noch die große Kohle mit dem Disney-Konzern gemacht hat, starb er auch ziemlich verarmt.

Wuttke: Nun ist diese Geschichte von Winnie the Pooh 80 Jahre alt und deshalb darf ich sagen, auch ihnen ist schon aus diesem Buch vorgelesen worden, nämlich von Ihrer Mutter, so ist zumindest in "Schlucken zwei Spechte" nachzulesen und es ist da…

Rowohlt: Meine vergeigten Memoiren.

Wuttke: Tatsächlich vergeigt? Wieso?

Rowohlt: Weiß ich auch nicht.

Wuttke: Auch so.

Rowohlt: Verleger Bittermann bekniet mich immer, ich soll noch einen zweiten Band nachliefern, was ich nicht tun werde, aber einen schönen Titel hätte ich schon dafür "Spucken zwei Schlechte".

Wuttke: Herr Rowohlt, na.

Rowohlt: He, he.

Wuttke: Das wird doch noch was.

Rowohlt: Glaube ich nicht, nein, nein, man darf nicht mehr als einmal Memoiren schreiben im Leben.

Wuttke: Okay, aber es ist dort zumindest in diesem ersten und wenn sie sagen ersten und einzigen Band zu lesen, dass das Vorlesen ihrer Mutter ausschlaggebend dafür war, dass Sie selbst lesen lernen wollten. War es so schlimm?

Rowohlt: Nein, das war nicht schlimm, aber meine Mutter war Schauspielerin, deshalb höre ich mir auch selbst sehr ungern Hörbücher an, weil das sehr viel länger dauert, als selber lesen und man immer warten muss, bis die Schauspieler, die das lesen, mit ihren elenden Betonungen fertig sind. Den eigentlichen Ausschlag gab, dass meine damalige zweite Verlobte Katharina, mit der ich in den Kindergarten ging, zwei Jahre älter war als ich und…

Wuttke: …und das war schon die zweite Verlobte?

Rowohlt: Das war bereits die zweite, die erste hieß Veronika und weil Katharina auch Brillenträgerin war, hielt ich Brille übrigens lange für ein sekundäres weibliches Geschlechtsmerkmal…

Wuttke: Da hat ihre Mutter dann ganz offensichtlich was versäumt.

Rowohlt: …und dann konnte sie, weil sie eben zwei Jahre älter war als ich, wurde sie eingeschult und konnte plötzlich lesen und schreiben und ich aber nicht, so dass ich praktisch kein Umgang mehr für sie war und da habe ich meine Mutter so lange angemault, bis sie mich auch eingeschult hat…

Wuttke: Aber Sie konnten dann auch Winnie the Pooh lesen und was war das, was Sie als Kind am meisten fasziniert hat an dieser Geschichte?

Rowohlt: Ich weiß es nicht, es war alles so einleuchtend. Die meisten anderen Bücher, die ich danach las, waren viel weniger einleuchtend als Pu der Bär.

Wuttke: Aber was war das so Einleuchtende an diesen Geschichten. Ich meine aus Erwachsenen-Sicht kann man sagen, da laufen ein paar Anarchisten durch den Wald. Das ist aber nicht das, was ein Kind sieht.

Rowohlt: Es gibt ja gar keine Kinderbücher. Kinderbücher werden von Erwachsenen geschrieben und von Erwachsenen gekauft und der große Erfolg dieses Buches beruht vielleicht darauf, dass der eigentliche Autor tatsächlich ein Kind war. Ich glaube nicht, dass Ihnen das als eine Erklärung genügt,…

Wuttke: Das genügt mir natürlich nicht.

Rowohlt: …aber ich selbst habe noch nie darüber nachgedacht, muss ich leider gestehen. Bei richtiger Kunst weiß man doch nicht, warum es einem gefällt oder können Sie erklären, warum Sie sich in Hans und nicht in Franz verknallt haben?

Wuttke: Na ja, das ist jetzt natürlich eine sehr persönliche Frage, auf die ich unter Umständen eine Antwort hätte, aber das Problem ist: Ich frage, Sie müssen antworten und deshalb noch mal die Frage: Wie haben Sie es als Erwachsener gelesen, als Sie sich dann rangemacht haben, es auf Ihre ganz persönliche Art, für die sie ja auch als Übersetzer sehr geschätzt werden, zu übersetzen und dann noch mal auf sich wirken zu lassen?

Rowohlt: Ich habe es gar nicht auf meine sehr persönliche Art übersetzt, ich habe es zum ersten Mal wörtlich übersetzt. Ein Beispiel unter hunderten: Im Original steht "Bubber, said Pooh" und in der alten Übersetzung heißt das "Verflixt, jammerte Pooh" und das Wort verflixt hasse ich, weil das bedeutet, dass man sich nicht traut, verflucht zu sagen und "said" heißt ums Verrecken nicht jammerte, sondern "sagte" und bei mir heißt das "So ein Mist, sagte Pooh" und außerdem reimen sich die Gedichte auf Deutsch nicht und da sind Kinder mit Recht sehr empfindlich, wenn sich etwas, was sich reimen sollte, nicht reimt: "Isn't it funny, that a bear likes honny" heißt in der alten Übersetzung, "Ist es nicht komisch, dass ein Bär lieb den Honig" und bei mir heißt es etwas freier, aber dafür reimt es sich dann wenigstens auch "Ich frage mich seit Jahr und Tag, warum ein Bär den Honig mag".

Wuttke: Welche Erfahrung haben Sie mit Kindern?

Rowohlt: Ich war selbst mal eines und bin jetzt ein ziemlich altes, 61 Jahre altes Kind. Es gibt ja dieses Sprichwort, "Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit".

Wuttke: Sie sind aber auch in die Rolle von Winnie the Pooh geschlüpft. Das stimmt natürlich nicht richtig, aber in der Zeit, als Kolumnenschreiber "Pooh's Corner - Meinung und Deinung eines Bären von geringem Verstand"…

Rowohlt: …von sehr geringem Verstand… Meinungen eines Bären von sehr geringem Verstand.

Wuttke: Hat das das Kind in Ihnen geschrieben oder hat Pooh Qualitäten, die so ganz anders sind als die Qualitäten des Harry Rowohlt, weshalb er aus Pooh's Corner geschrieben hat?

Rowohlt: Ich habe, glaube ich, die große Begabung, Sachverhalte allgemeinverständlich zu machen, aber nur, wenn ich sie selbst vorher kapiert habe, was die Anzahl der Sachverhalte empfindlich einschränkt. Und insofern habe ich mich so ein bisschen mit Pooh dem Bären solidarisch gefühlt, weil der ja auch ziemlich wenig kapiert, das wenige aber sehr klar ausdrücken kann.

Wuttke: Das heißt also, es steckt - ob wir nun als Kinder oder als Erwachsener auf diese Geschichten schauen, wenn wir sie als Kinder nicht verstehen, dann vielleicht besser als Erwachsene - doch viel Philosophie in diesen Geschichten. Wenn zum Beispiel das Ferkel Pooh fragt: "Wenn du morgens aufstehst, was sagst du dann als erstes." Und Pooh sagt: "Was gibt es zum Frühstück?" Und das Ferkel: "Ich sag, ich möchte gerne wissen, ob heute etwas Aufregendes passiert." Und Pooh dann nachdenklich sagt: "Das ist ja das selbe."

Rowohlt: Ja genau, natürlich, ja es stimmt einfach alles, es gibt ein Buch "The Pooh-perplex", in dem Pu der Bär auf die verschiedensten Weisen interpretiert wird und weil ich ungeheuer leicht zu überzeugen bin - das macht schon überhaupt keinen Spaß mehr, mich zu überzeugen - habe ich das einmal gelesen, und dann habe ich die marxistische Interpretation noch mal gelesen, damit mich die doppelt und am nachhaltigsten überzeugt.

Wuttke: Aber nun ist Disney dabei diese Charaktere zu ändern, die wir von Milne kennen und zwar mit der Begründung…

Rowohlt: Für den koscheren Markt musste Ferkel dran glauben, ja.

Wuttke: Das heißt, wenn Kinder nicht mehr lesen, sondern nur noch Disney schauen, kann dann der 160-Morgen-Wald überleben?

Rowohlt: Überhaupt nicht. Die Disney-Verfilmungen sind ein Verbrechen, das nie verjähren wird. Mir hat mal ein leitender Angestellter von Disney geschrieben, ob ich nicht Lust hätte, mich an der Vermarktung irgendwie zu beteiligen, der hieß Allrily oder so was und zum Schluss schrieb er, ich weiß, dass Sie die Disney-Produktionen Winnie the Pooh hassen, aber ich weiß auch, dass Sie Iren nichts übel nehmen können, deshalb schreibe ich Ihnen.

Wuttke: Ich habe es ja schon gesagt, Sie haben Winnie the Pooh auch als Hörbuch eingelesen. Wie ist das denn bei Ihnen? Flutscht das so runter, oder ist es für Sie auch…
Rowohlt: Das flutscht so runter, ja…

Wuttke: …ist es für Sie nicht schwer, dass Sie sich tatsächlich an die Worte halten müssen, die da schwarz auf weiß vor Ihnen stehen und die sie zwar selbst übersetzt haben, aber an die Sie sich wirklich halten müssen?

Rowohlt: Das ist überhaupt nicht schwer, nein. Zum Beispiel, das ist ganz seltsam, die Stimme von I-Ah, ich dachte, als ich das aufnahm, das ist ein bisschen zu sehr chargiert, die Stimme habe ich zu 80 Prozent vom deutschen Romancier Georg Lenz geklaut und zu je 10 Prozent von Hildegard Knef und Peter Zadek und Kinder lieben eigentlich nur noch die Kapitel, in denen I-Ah vorkommt, weil der so schön knatschig spricht: "Falls es ein guter Morgen ist, was ich bezweifle…"

Wuttke: Und wie lange haben Sie geübt dafür?

Rowohlt: Überhaupt nicht.

Wuttke: Sie stellen unterschiedliche Charaktere zusammen, Sie haben die Stimmen im Kopf und dann setzen Sie sich ins Studio und dann…

Rowohlt: Ja, wir haben dafür zwei Tage gebraucht. Das lag aber daran, dass ich mit der Toningenieurin schon lange befreundet war und deshalb haben wir uns ganz viel Zeit gelassen. Hätten wir uns beeilt, wären wir bis heute nicht fertig geworden.

Wuttke: Vor 80 Jahren erschien das Kinderbuch Pooh der Bär, Winnie the Pooh, von Alan Alexander Milne. Zum ersten Mal im Radiofeuilleton von DeutschlandRadio Kultur, der Übersetzer und der Vortragskünstler Harry Rowohlt, ich danke Ihnen sehr Herr Rowohlt.