"Es gibt erhebliche Überschneidungspunkte"

Manfred Kittel im Gespräch mit Joachim Scholl · 23.09.2010
Der Direktor der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Manfred Kittel, hat die Kritik an seinem Konzept für eine Dauerausstellung über Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert zurückgewiesen. Der Osteuropa-Historiker Martin Schulze-Wessel hatte zuvor bemängelt, die Stiftung gehe über den Zweiten Weltkrieg als dominierenden Kontext von Flucht und Vertreibung hinweg.
Joachim Scholl: Vor zwei Jahren wurde die "Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung" gegründet, und seither zerren allerlei politische Interessen an diesem Projekt und vor allem an der Frage: Wie soll eine geplante Dauerausstellung zum Thema aussehen? Wie soll das Leid der deutschen Vertriebenen im Kontext deutscher Schuld dargestellt werden? - Im Studio begrüße ich nun den Direktor der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Manfred Kittel. Guten Tag!

Manfred Kittel: Guten Tag!

Scholl: Fühlen Sie sich herausgefordert durch Martin Schulze Wessel und seine Kollegen?

Kittel: Wir freuen uns über jede Initiative, sei es privater Art, gesellschaftlicher Art, Ideen, Überlegungen dazu, wie man mit dem schwierigen Thema Flucht, Vertreibung, Zwangsmigration in eine Ausstellung mitten in Berlin umgehen könnte. Das ist das eine. Das andere ist, ob man in allen Punkten übereinstimmt. Ich glaube, so ein Stück weit ist das, was hier stattfindet, auch ein ritualisierter Konflikt, der vielleicht etwas schärfer rüberkommt, als er in der Sache tatsächlich ist. Und ich glaube, es gibt durchaus auch erhebliche nicht nur Überschneidungspunkte, sondern Überschneidungsflächen zwischen dem, was diese Historikerkommissionen vorgelegt haben, und dem, was die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung plant.

Scholl: Auf die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede dieser Konzepte wollen wir gleich zu sprechen kommen, Herr Kittel. Aber in der Öffentlichkeit ist ja schon der Eindruck entstanden, dass die Stiftung vor allem durch interne Querelen gekennzeichnet ist. Warum hat es eigentlich auch so lange gedauert bis zu Ihrem Konzept zur Dauerausstellung, das jetzt also demnächst vorgestellt wird?

Kittel: Lange gedauert hat es überhaupt nicht. Man muss sich mal vor Augen halten, wie das in vergleichbaren Fällen, bei vergleichbaren Projekten gelaufen ist. Und seit zwei Jahren gibt es das Stiftungsgesetz. Aber bis die Stiftung dann auf die Beine kommt - mit dem Personalaufbau et cetera - dauert es eben. Also wir haben jetzt in diesem Jahr auch erst im Mai einen Ausstellungskurator eingestellt, jetzt ist September. So fürchterlich lang kann ich den Weg zu einem Ausstellungskonzept nicht finden. Man muss eben dazu sagen: Ich verstehe ja eine gewisse Ungeduld öffentlich, die natürlich vor allem deswegen entsteht, weil immer wieder auch politisch so massiv diskutiert wird über die Stiftung. Aber man muss dazu sagen: Eine staatliche Stiftung ist keine Sponti-Veranstaltung. Es gibt Gremien, es gibt Fristen, die einzuhalten sind, und im Rahmen derer bewegen wir uns. Und die Stiftung, der Stiftungsrat hat bei seiner letzten Sitzung im März erstmals den Direktor aufgefordert, gebeten, ersucht, wie Sie es nennen wollen, eine Konzeption vorzulegen bis zur nächsten Sitzung. Die findet jetzt im Oktober statt, und das Papier ist da.

Scholl: Wenn Sie die politischen Kräfte ansprechen: Es heißt ja auch immer, dass der Bund der Vertriebenen unzulässig Einfluss nimmt auf die Stiftung. Ist das so?

Kittel: Das kann ich aus meiner bisherigen Erfahrung jedenfalls mit den beiden Stiftungsratsmitgliedern, die aktiv mitwirken – seit, ja, jetzt einem Jahr etwa – nicht bestätigen. Das ist der sudetendeutsche Sozialdemokrat Schläger und ein bayerischer Christsozialer mit schlesischen Wurzeln, Herr Knauer. Und mit beiden hat es bisher im Stiftungsrat keine Probleme gegeben. Hätte es welche gegeben, hätte es die Öffentlichkeit sicher auch erfahren.

Scholl: Kommen wir mal zu den bislang bekannten Punkten des Konzepts. Sie haben unlängst in einem Vortrag hier in Berlin Eckpunkte schon vorgestellt, zum Beispiel sieht ihr Plan vor, die Chronologie der Vertreibung in der Ausstellung mit dem ersten Weltkrieg beginnen zu lassen. Mit welcher Begründung?

Kittel: Man muss ja sehen, was der Stiftungsauftrag ist. Der Stiftungsauftrag lautet zum einen, Flucht und Vertreibung der Deutschen als einen Hauptakzent darzustellen in ihrer historischen unmittelbaren Verursachung, im Kontext des nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungskrieges. Eingebettet soll das Ganze – ausdrücklich im März 2008 der Regierungsbeschluss im Vorfeld der Gründung der Stiftung –, eingebettet soll das sein in den Kontext europäischer Vertreibungen im 20. Jahrhundert. Also historisch-politisch gesehen: Das kurze 20. Jahrhundert, wie man sagt, beginnt mit dem Ersten Weltkrieg und endet quasi mit dem Jahr 1989, 90, wenn man so will. Wir nehmen die 90er-Jahre dann aufgrund unseres thematischen Fokusses natürlich noch komplett mit hinein, weil die ethnischen Säuberungen im zerfallenden Jugoslawien am Ende des 20. Jahrhunderts ja noch mal eine ganz wichtige Wegmarke sozusagen in der Geschichte von Zwangsmigration im 20. Jahrhundert markieren.

Scholl: Dagegen setzt nun die Münchner Forschergruppe den Fokus auf den Zweiten Weltkrieg. Hören wir uns mal an, wie Martin Schulze Wessel diesen Ansatz erklärt:

Martin Schulze Wessel: Für unser Konzept ist es ganz grundlegend, dass der Zweite Weltkrieg mit den Vernichtungspraktiken gegenüber Juden aber eben auch gegenüber Polen, dass dieser Zweite Weltkrieg den entscheidenden, den dominierenden Kontext bildet für die Vertreibung und die Flucht. Und wir wollen deutlich machen, dass es zwischen Vertreibung einerseits und der Shoah aber eben auch der Verfolgung der Polen einen kategorialen Unterschied gibt, was die Vernichtungsabsicht angeht und auch die Systematik der Verfolgungen.

Scholl: Der Historiker Martin Schulze Wessel über den Plan einer Dauerausstellung zum Thema Flucht und Vertreibung. Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Manfred Kittel, dem Direktor der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Ein kategorialer Unterschied, Herr Kittel, zwischen dem Genozid der Nazis, der Vernichtung des jüdischen Volkes und der Vertreibung. Ich meine, diesem Unterschied werden Sie auch zustimmen?

Kittel: Dem werden wir zustimmen, das habe ich am Samstag, als ich Umrisse der Ausstellungskonzeption vorgetragen habe bei einer internationalen Tagung, ja auch getan. Ich kann auch nur jeden Satz unterschreiben, denn Herr Schulze Wessel … die Ausführungen, die er jetzt eben getätigt hat. Die entscheidende Frage scheint mir dann zu sein, … Also es ist völlig unstrittig: Für Flucht und Vertreibung der Deutschen ist dieser genannte Kontext Zweiter Weltkrieg zentral.

Wir behandeln aber eben laut unseres Stiftungsauftrages eben auch andere Fälle von Zwangsmigration im 20. Jahrhundert, eben auch solche, die schon vor dem Dritten Reich lagen, die als Vorgeschichte zum Gesamtverständnis des Phänomens Zwangsmigration, ethnische Säuberung einfach ganz wichtig sind: Der griechisch-türkische sogenannte Bevölkerungsaustausch, sanktioniert im internationalen Vertrag von Lausanne, auch durch die demokratischen Westmächte 1923, lag eben quasi am Ende - wenn man so will, ist er noch eine Folge des Ersten Weltkrieges und der Konflikte in Kleinasien, im südlichen Europa. Der ist ganz wichtig, im Übrigen auch, um zu verstehen, weshalb die Westmächte – Churchill, Roosevelt –, die Westmächte dann 1944, 45 einer Politik der Vertreibung der Deutschen zustimmten.

Sicherlich vor allem auch vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruches der Nationalsozialisten, dieses Vernichtungskrieges, den das Dritte Reich geführt hat im Osten, aber eben auch, wenn man so will, in der Longue durée, in der längeren … in den Wurzeln des, des, des … zum Verständnis der Haltung der … oder gerade von Churchill finden Sie immer wieder ganz explizit: Ja, das hätte doch mit den Griechen und Türken Anfang der 20er-Jahre gut funktioniert. Diesen Präzedenzfall gab es eben. Das relativiert aber nicht sozusagen den zentralen Kontext Nationalsozialismus sozusagen in der Verursachung der Vertreibung der Deutschen. Aber es ist sozusagen ein breiterer, weiterer Kontext, der wichtig ist, wenn man das Thema ethnische Säuberung insgesamt verstehen will.

Scholl: Nun, Relativierung – das ist immer so das Angst- und auch Schlüsselwort in der Debatte. Im Kern allen Streits um dieses Thema geht es ja immer darum, also das Leid der deutschen Vertriebenen jetzt auch darzustellen, aber dabei die grundlegende deutsche Schuld, wie es zu dieser Vertreibung kam, nicht zu mindern. Ist denn hier überhaupt ein Konsens, eine historisch objektive Sicht im Sinne einer Ausstellung denk- und dann auch vermittelbar?

Kittel: Das wird die Ausstellung dann zeigen. Wir werden uns jedenfalls sorgfältigst und peinlichst bemühen, die unterschiedlichen Kontexte akribisch, wissenschaftlich genau darzustellen und hoffen dann, den erwähnten Ansprüchen auch genügen zu können.

Scholl: Über ihre und andere Pläne – die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Bei uns war der Stiftungsdirektor Manfred Kittel. Danke schön für Ihren Besuch und das Gespräch!

Kittel: Vielen Dank, gerne!
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