"Es gibt einfach keine freien Räume"

Radouane Belakhdar im Gespräch mit Alexandra Mangel · 24.01.2011
Mit Hoffnung schauen viele Algerier auf die neue Lage im "Bruderland" Tunesien nach dem Sturz des Diktators Ben Ali. Doch der in Deutschland lebende Historiker, Übersetzer und Autor Radouane Belakhdar sieht Algerien noch im festen Griff eines brutalen Regimes.
Alexandra Mangel: Sieben Menschen haben sich in den vergangenen Tagen in Algerien angezündet nach dem Vorbild des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouaziz, dessen Selbstverbrennung am Anfang der Revolution in Tunesien stand. Gestern starb einer von ihnen im Krankenhaus, gleichzeitig demonstrierten Hunderte algerische Jugendliche in den Straßen von Algier.

Seit zwölf Jahren wird Algerien von Präsident von Präsident Abd al-Aziz Bouteflika regiert, das Land ist reich an Erdöl- und Erdgasvorkommen, doch von diesem Reichtum kommt beim Volk wenig an. Die Lebensmittelpreise steigen, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 46 Prozent.

Bei mir im Studio ist jetzt der Autor, Historiker und Übersetzer Radouane Belakhdar. Er lebt seit 1993 in Deutschland und leitet den deutsch-algerischen Kulturverein Yedd. Herzlich willkommen, Herr Belakhdar!

Radouane Belakhdar: Danke schön!

Mangel: Mit welchen Gefühlen schauen die Menschen in Algerien derzeit nach Tunesien, auch vor dem Hintergrund dieser blutigen Geschichte des Landes?

Belakhdar: Zunächst einmal mit sehr viel Hoffnung. Es ist allgemein bekannt, dass Algerien seit seiner Unabhängigkeit 62 unter einer nicht demokratisch legitimierten Regierung oder einem nicht demokratisch legitimierten Regime auch gelebt hat, und das galt auch für unsere Nachbarn. Aber kein Mensch in Algerien – ich habe sehr viele Kontakte zu meiner Heimat –, kein Mensch hat es voraussehen können, dass es hier … Viele Leute sagen – da sie wissen, ich lebe in Deutschland –, sagen, es ist ja fast wie bei euch damals in Berlin 89, bei euch in Deutschland, dass der Mauerfall praktisch alle Leute überrascht hat. Und das, was in Tunesien passiert ist, wenn man weiß, wenn man die Hintergründe dieses Regimes, des brutalen Regimes von Ben Ali auch kennt, da hat kein Mensch geglaubt, dass dieser Ben Ali und seine Clique und sein Machtapparat von heute auf morgen wie ein Kartenhaus zusammenbrechen würden.

Mangel: Wie werden die Ereignisse in Tunesien denn derzeit in Algerien diskutiert von den offiziellen Medien, aber auch im Internet?

Belakhdar: Von den offiziellen Medien ganz kurz: nichts! Also an dem Abend, wo Ben Ali dann praktisch abgehauen ist – erlauben Sie den Begriff –, hat das algerische Fernsehen in einer kurzen Erklärung berichtet: Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Ereignisse in Tunesien sich nur zugunsten oder im Interesse des tunesischen Brudervolkes entwickeln werden. Also so eine hölzerne Sprache, die jeder Algerier seit 50 Jahren auch kennt, aber keine Erklärung, keine entweder solidarische Erklärung oder eine verurteilende Erklärung, nichts. Also man verschweigt es. Allerdings gibt es in Algerien freie Medien, also vor allem in der Presse, in der arabisch- und in der französischsprachigen Presse gibt es jeden Tag sehr, sehr ausführliche und sehr positive Berichte über die Lage in Tunesien.

Mangel: Gestern gab es Ausschreitungen in Algier, Hunderte Jugendliche haben demonstriert, und der arabische Sender Al Dschasira hat kommentiert: Die Revolte lässt sich nicht mehr aufhalten. Glauben Sie das auch?

Belakhdar: Ja wissen Sie, seit 1992 gilt in Algerien der Ausnahmezustand. Dementsprechend sind jegliche Artikulierungen von freier Meinungsäußerung oder von Demonstrationen einfach untersagt. So galt auch das für den Marsch, den friedlichen Marsch der RCD, der Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie, der vorgestern stattfinden sollte. Allerdings hatten wir Folgendes erlebt: Es waren knapp tausend Anhänger, demokratische Anhänger dieser Partei, die demonstrieren wollten; dagegen standen über 10.000 Polizisten. Also eine Demonstration der Macht, die nur eine Erklärung hat: Das Regime in Algerien, in Algier, will auf jeden Fall vermeiden, dass der Domino-Effekt aufgrund der tunesischen Ereignisse sich dann in Algerien auch bemerkbar macht.

Mangel: Was an der tunesischen Revolution ja so beeindruckt, ist, dass dieser Protest eben nicht von Islamisten, sondern von einem Bürgertum ausgeht, von einer gebildeten Mittelschicht, die sich mit den Armen solidarisiert. Gibt es denn in Algerien eine solche soziale Basis für eine Revolution, wäre etwas Ähnliches in Algerien vorstellbar?

Belakhdar: Ich würde leider sagen, nein. Also dazu sind die Entwicklungen Algeriens und Tunesiens seit der jeweiligen Unabhängigkeit ganz anders verlaufen. Tunesien hat seit seiner Unabhängigkeit 56 unter dem damaligen Präsidenten Bourguiba in einer, zumindest in einem Bereich phänomenale Vorbildmaßnahmen getroffen: Die Bildung und die Emanzipation der Frauen sind einmalig, ich würde sagen in der gesamten arabischen Welt. In Algerien ist es anders, wir hatten nach 62 eine sogenannte sozialistische Orientierung, die Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre in der Tat positive Auswirkungen hatte sagen wir mal was die Ausbildung betrifft und was das Bildungssystem überhaupt … Es gab den Anfang oder die Anfänge der Bildung einer Mittelschicht. Diese Mittelschicht ist dann …

Mangel: … durch den Bürgerkrieg auch weggebrochen …

Belakhdar: … schon zuvor, denn in den 80er-Jahren gab es ja, 1986 gab es einen brutalen Fall der Ölpreise, und da Algerien praktisch nur aufgrund der Einnahmen aus den Gas- und Öleinnahmen, -exporten auch lebt, hatte der Staat plötzlich kein Geld mehr. Also 86 fing ja sozusagen die Krise an, die dann im Oktober 88 dann gipfelte.

Mangel: Aber wie stark ist denn in Algerien auch die Angst im Angesicht der blutigen Geschichte des Landes, der Jahre des Bürgerkriegs, wie präsent ist das denn? Also wie stark verhindern diese Erfahrungen auch einen erneuten Anlauf?

Belakhdar: Das sind Ereignisse, die immer noch nicht verarbeitet wurden, also die Massaker, die blutigen Auseinandersetzungen, die es in den 90er-Jahren gegeben hatte, sind noch im kollektiven Bewusstsein sehr präsent. Und daher wissen die Algerier, zumindest auch die oppositionellen Kräfte – und das gilt auch für viele, viele sind in der Opposition oder zumindest viele mögen dieses Regime nicht, hassen dieses Regime –, aber der Unterschied zu Tunesien wiederum ist, dass der algerische Staat in seinem repressiven Teil enorm brutal ist. Also wir haben, anders als in Tunesien haben wir eine Armee beziehungsweise die Sicherheitsdienste, die praktisch das Land seit 62 regieren, und zwar mit allen brutalen Mitteln. Es gibt einfach keine freien Räume. Und das macht den Unterschied aus zwischen Tunesien und Algerien. In Tunesien hat die Armee praktisch auf der Seite des Volkes gestanden. Der Generalstabschef, der es abgelehnt hatte, auf die Menge schießen zu lassen, wurde noch vom damaligen Präsidenten Ben Ali auch gefeuert. Das muss man sich vorstellen, das ist in Algerien nicht möglich bis jetzt.

Mangel: Algerien ist eigentlich reich, die Regierung hat nach den Ausschreitungen jetzt die Lebensmittelpreise gesenkt. Trotzdem gab es gestern Demonstrationen. Wie lange – also die Regierung erkauft sich ja quasi den Frieden damit auch –, wie lange, denken Sie, kann das noch halten?

Belakhdar: Ja das ist ein wichtiger Stichpunkt, den Sie hier jetzt gerade erwähnen, und das ist wiederum ein großer Unterschied zwischen Tunesien und Algerien. Und auch in Algerien zwischen der Lage 88 und heute. Algerien verfügt über so viel Geld wie noch nie in seiner Geschichte, 155 Milliarden Dollar gelten als Devisenreserven, die sind da. Die Frage ist ja, wer profitiert davon? Alles andere als ja das Volk. Das Volk ist ja auf die Straße gegangen um zu protestieren gegen die Erhöhung der Lebensmittelpreise. Und daraufhin hat das Regime, die Regierung prompt reagiert, um dann den Domino-Effekt zu verhindern. Haben sie einfach gesagt, okay, wir senken alle Preise der Lebensmittel.

Mangel: Dennoch würden Sie sagen, zusammenfassend, eine Entwicklung wie in Tunesien ist aufgrund all der Unterschiede in der historischen Entwicklung und den sozialen Gegebenheiten derzeit nicht vorstellbar. Umso beunruhigender sind ja dann die Ausschreitungen jetzt?

Belakhdar: Das ist ja der Punkt. Ich fürchte – und ich wünschte, wir würden das Gleiche erleben wie die Tunesier –, aber es ist leider nicht so denkbar. Ich bin nicht pessimistisch, aber ich nehme an … Es wird spannend sein auf jeden Fall.

Mangel: Der Historiker, Autor und Übersetzer Radouane Belakhdar über die Lage in seinem Heimatland Algerien, wo gestern Hunderte Menschen für mehr Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen sind. Danke schön fürs Gespräch, Herr Belakhdar!

Belakhdar: Ich danke Ihnen auch!

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