Es geschah in Berlin

Von Thilo Schmidt · 07.10.2009
7. Oktober 1989. In Ostberlin ist die Tribüne gezimmert. Die DDR wird 40 Jahre alt. Der Palast ist geschmückt für die erlesenen Ehrengäste. Die Staatsoberhäupter der sozialistischen Bruderländer erscheinen. Michail Gorbatschow soll im Politbüro an diesem Tag den zur Legende gewordenen Satz "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" gesagt haben.
Denn längst rumort es an allen Ecken und Enden in der DDR. Tausendfach fliehen die Menschen in den Westen, in Leipzig gehen seit Wochen Menschen jeden Montag demonstrieren. Auch zum Republikgeburtstag gehen in Leipzig, Dresden und anderen Städten der DDR Tausende demonstrieren. In Ostberlin wird die Demonstration mit einer Brutalität niedergeschlagen, die man in der DDR bislang nicht kannte.

DFF-Fernsehbericht: "Das Bühnenbild zeigt ein Panorama von stilisierten Blüten, Dahlie, Rose, Gerbera, leicht und zart und duftig. Ein Blumengruß an diesen Oktobertag, den 40. Jahrestag unserer Republik."

"Ich kann nur ein Beispiel erzählen, ich hab's selber gesehen, da ist ein Polizist, uniformierter … das waren drei Mann. Die sind auf einen Jugendlichen, auf ihn losgestürzt, mit Knüppeln auf ihm eingedroschen haben, der is gegen den Maschenzaun, mit dem Gesicht rein gestürzt, so, dass das Blut gleich aus der Nase geschossen kam, und denn ham sie ihm an die Haare gepackt, und ihm regelrecht bis zum LO gezogen, an den Haaren, ohne Unterstützung, regelrecht an die Straße. Ick hab mir vor Schmerz den Kopf festgehalten. Also das war nicht mehr zum Angucken."

Ostberlin, 7. Oktober 1989. 40. Jahrestag der DDR. Die Führung feiert sich. Und lässt eine Protestdemonstration blutig niederschlagen.

Laabs: "Demonstrationsopfer gibt’s auf der ganzen Welt, und das ist eben so ein Risiko, dass man da auf sich nimmt, ja? Also Polizeiknüppel, die sind nirgendwo auf der Welt weich. Ja? Bloß wir in der DDR hatten diese Erfahrung eigentlich … also meine Generation zum ersten Mal gemacht, ich denke, dass das letzte Mal, dass derart massiv gegen Demonstranten vorgegangen war, das wird der 17. Juni 53 gewesen sein. Ja."

Der Palast der Republik ist gefüllt mit erlesenen Ehrengästen. Jedoch die Protestdemonstration ist bereits in Richtung Palast unterwegs.

Honecker: "Ich bitte Sie, mit mir das Glas zu erheben und zu trinken – auf die internationale Solidarität und Zusammenarbeit, auf den Frieden und das Glück aller Völker, auf den 40. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik!"

Pragal: "Der 7. Oktober war aus meiner Sicht eine gespenstische Veranstaltung. Erich Honecker und die Mehrheit des Politbüros wollte diesen Staatsfeiertag, dieses runde Jubiläum, 40 Jahre DDR, im gewohnten Stile feiern. Koste es, was es wolle! Sie haben alles so vorbereitet, wie es immer der Fall gewesen ist, sie haben den Empfang so gemacht, sie haben die Festveranstaltung im Palast der Republik so ablaufen lassen… Wenn man aber genau hingeschaut hat, dann merkte man: Es ist Potemkin! Es ist alles nur noch Kulisse. Die Teilnehmer sind von dem, was sie da gerufen haben, oder wozu sie da als Statisten delegiert waren, gar nicht mehr überzeugt."

Die Führung der DDR verkennt die Wirklichkeit. Die Harmonie, die mit Fackelzug, Militärparade und Volksfesten demonstriert werden soll, ist nur noch Fassade.

DFF-Fernsehbericht: "Man sah sich um auf den verschiedensten Volksfesten, so zum Beispiel im Volkspark Friedrichshain, wo ein Riesenrad und Karussells auf die Jüngsten warteten. Die Feuerwehr, die Volkspolizei und die NVA hatten Attraktionen zu bieten. So konnte sich, wer wollte, als Feuerwehrmann ausprobieren. Also kurzum – es war was los, es war nicht zu verkennen: Hier wird gefeiert."

Längst flüchteten zu diesem Zeitpunkt Tausende über Ungarn in den Westen, in Leipzig finden Montagsdemonstrationen statt. Auf dem Land lastet ein nie zuvor gekannter Druck, im Palast der Republik spricht Erich Honecker zu den Staatschefs der sozialistischen Bruderländer.

Honecker: "Auch im fünften Jahrzehnt wird der Sozialistische Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden ständig auf das Neue beweisen, dass seine Gründung im Oktober 1949 ein Wendepunkt war. In der Geschichte des deutschen Volkes und in der Geschichte Europas. Es lebe der 40. Jahrestag der deutschen demokratischen Republik!"

Peter Pragal hat diesen Tag als DDR-Korrespondent des Sterns beobachtet.

Pragal: "… und außerdem war ja da auch Gorbatschow da. Heute wissen wir ja, dass er in einer Sitzung des Politbüros da richtig zusammengestaucht hat, und ihnen klargemacht hat: Wenn sie so weitermachen, riskieren sie sozusagen das Ende dieses Staates! Wenn sie also nicht auf einen Reformkurs einschwenken!"

"Gorbi, Gorbi" werden an diesem Tag die Demonstranten rufen. Zunächst formieren sich einige hundert zumeist junge Menschen auf dem Alexanderplatz und ziehen vor den Palast der Republik. Dort wird die Demonstration von einem massiven Polizeiaufgebot abgedrängt. Einer der Demonstranten ist Klaus Laabs. Damals wie heute freier literarischer Übersetzer, Sohn überzeugter Kommunisten, selbst aber für deutliche Reformen – und wegen seines Engagements für die in der DDR gerade aufkommende Schwulenbewegung ohnehin im Visier der Staatsmacht.

Laabs: "Als wir da unten standen, und die Demo nicht so recht wusste, wie weiter, ja? Da gab’s also Rufe: Zurück zum Alex, andere wollten zum Lenin-Denkmal demonstrieren, das wär ja nun ein Stück stadtauswärts gewesen, das gefiel mir überhaupt nicht, weil da würde sich das zerstreuen, da gab’s dann den Ruf in die Luft – also zugegebenermaßen hab ich das gerufen, ‚Auf in die Gethsemanekirche. Zur Mahnwache’. Und dem schlossen sich sofort sehr viele an, und wir sind dann einfach losmarschiert die Greifswalder Straße hinunter …"

Bereits seit Tagen werden in der Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg Mahnwachen und Fürbitten für politische Gefangene abgehalten. Bernd Albani, damals Pfarrer der Gethsemanekirche:

Albani: "… und vom 4. Oktober an war dann auch die Fastengruppe bei uns in der Kirche, die Kirche war Tag und Nacht geöffnet, und seitdem war dann auch die Kirche jeden Abend gerammelt voll zu den Fürbitt- und Informationsandachten. Es hatte sich ne Initiativgruppe gebildet, die mit dieser Mahnwache erreichen wollte, dass die Leute, die bei Aktionen vor allem in Leipzig verhaftet worden waren im Sommer, dass die freigelassen werden."

Laabs: "Und ich bin dann tatsächlich mit dem Taxi zur Gethsemanekirche, hab dort Bescheid gesagt, damit die sozusagen auch die Auffangmöglichkeiten bieten, weil eins war klar: Wenn die Demonstranten auf dem Kirchengelände waren, dann konnte die Polizei und Staatssicherheit nicht mehr zugreifen."

Vor allem in Kirchen, aber auch in Theatern, die einen gewissen Schutz vor der Staatsmacht boten, findet das Volk in diesen Monaten Mut zum Protest. Auch der damals 25-jährige Carsten Hopke, der an diesem Tag noch mit der Staatsmacht in Konflikt geraten wird, engagiert sich in einer der zahlreichen Untergrund-Gruppen.

Hopke: "Da arbeiteten Studenten und Leute aus dem ganzen Land mit, bei der Umweltbibliothek zum Beispiel, die eine Zeitung druckten, wo ich auch mich beteiligt habe, an ner Wachswalzen-Matritzenmaschine zu kurbeln, im Keller von den Gemeinderäumen der Zionskirche. Da wurde auf Missstände hingewiesen, die über die normalen Medien eben nicht verbreitet wurden, und man hat eben gesehen, dass immer mehr Leute sich engagieren, und es war nicht mehr so schwierig, sich zu engagieren. Und insofern glaubte man eher an Möglichkeiten zur Verbesserung im Land."

Unterdessen treffen immer mehr Demonstranten vor der Gethsemanekirche ein. Und immer mehr Ordnungskräfte.

Wendland: "… und da war für mich sofort die Gretchenfrage gestellt …","

sagt Dieter Wendland, damals wie heute ein Aktiver in der Kirchengemeinde …

Wendland: ""… also willste die Demonstranten mit rein lassen oder nicht, und wir haben hier ne wunderbare Gemeinschaft gefunden, wir haben wirklich ein Gebet gesprochen, und danach haben wir abgestimmt, ja, wir lassen die Demonstranten rein, ja, wir machen eine offene Kirche."

Albani (1989): "… alle, die nicht nach Hause gehen möchten, zu einer Nacht in der Kirche! Die Kirche ist offen!"

Albani: "… und dann bin ich da auf so ne Zaunssäule geklettert und hab da versucht, irgendwie, zu den Leuten da zu reden, und sie eingeladen in die Kirche, ne Nacht in der Kirche zu verbringen, aber da kam dann der deutliche Ruf: ‚Wir bleiben hier!’, ‚Auf die Straße!’, nicht mehr jetzt in die Kirche, sondern in die Öffentlichkeit zu gehen. Und draußen zu bleiben."

Demonstranten:"Wir bleiben hier! … Wir bleiben hier!" …"

Mittlerweile sind es Tausende, die sich in der Schönhauser Allee und vor der Gethsemanekirche versammelt haben. Journalisten werden massiv an ihrer Arbeit gehindert, es gibt nur wenige Filmaufnahmen. Diese stammen von einem tschechischen Fernsehteam

Sprechchor: ""Keine Gewalt! Keine Gewalt! Keine Gewalt! …"

Schambach: "Die Demonstranten setzten sich dann noch nieder, die sitzen hier mitten auf der Schönhauser Allee, denn fingen se an, die Internationale zu singen. Das war auch so ne ulkige Situation, weil so was benutzt wurde, was ich, jeder andere natürlich auch, ganz anders kannte. Also in ganz anderem Zusammenhang. Also den Spieß einfach umzudrehen. Da hatt ich nen kleinen Schauder aufm Rücken, weil die Situation so … also das war so Mitternacht, nur vom Bahnhof beleuchtet, war ja stockdunkel im Prinzip, und da sitzen die ganzen Leute, und det sind ja richtig viele hier, und singen da die Internationale. Ulkig …"

Die freischaffende Fotografin Merit Schambach, damals 18, sympathisiert mit den Demonstranten, nimmt aber mit ihrer Minox-Kamera eine scheinbar unbeteiligte Beobachter-Position ein.

Schambach: "Ich bin dann in ne Seitenstraße gerannt, also unter der S-Bahn durch, und wollte nach Hause telefonieren, und sagen: Alles OK, ich komm ‚n bisschen später, und da kamen mir aber auch schon Kampftruppen … ja so im Laufschritt. Und det hallte so … wahnsinnig! Da hallten so ne schweren Stiefel, so `n Laufschritt hallte da so übers Pflaster. Bah, irgendwie, war nich schön. Also bin ich rein, irgendwie in `n Hausflur, in den nächsten besten, und wollte aufs Dach, was ja damals noch ging, kam aber nicht mal drei Treppenstufen hoch, weil von oben kam schon jemand runter, und sagte: ‚Ja, was machen sie denn hier? Das geht ja gar nicht!’, Wusste nicht genau wohin, weil raus wollt ich auch nicht, weil die waren ja inzwischen auf meiner Höhe angelangt, die Kampfgruppen, und da öffnete sich ne Wohnungstür, jemand zog mich rein, Tür zu – und dann war ick da drinne, und das war so die Rettung, in dem Moment."

In der Wohnung, in der offenbar Kirchenaktivisten wohnen, halten sich bereits eine Handvoll Menschen zum Schutz auf.

Schambach: "Also det erste, was ich gemacht habe, ist erstmal den Film rauszuholen, neuen Film rein – weil das kennt man ja aus'm Kino, dass als erstes der Film beschlagnahmt wird, also erst mal versteckt. Und dann klingelten die auch schon, und verlangten da irgendwie in die Wohnung, und auf Herausgabe meiner Person, oder welcher Person auch immer, und dann haben die Leute aber gesagt: Also nee, das ist immer noch unsere Wohnung, nichts ist. Wir haben dann auch gesehen – war ja Parterre – dass se aufm Hof sämtliche Müllcontainer mit Hunden durchkramt haben, und Leute da unter den Mülltonnen hervorgezogen haben, und det war schon irgendwie gruselig. Ja."

Ein paar hundert Meter weiter geraten an diesem Abend Carsten Hopke und seine Partnerin Angelika Otto in die Demonstration – eher zufällig, auf dem Heimweg von einem Ausflug mit
dem Motorrad.

Hopke: "… und hinter dieser Abriegelung wurden wir dann Zeuge, oder haben gesehen, wie die sich einzelne Demonstranten raus griffen, und hinter den Fahrzeugen, in diesem freien Bereich, in dem wir uns nun noch befunden haben, brutal zusammengeschlagen haben."

Otto: "Da hab ich n Mädchen gesehen, was zusammengeprügelt wurde, und war so fassungslos, weil man so ne Bilder eben nicht kannte, und so ne Aktionen nicht kannte, und bin dann hin, um ihr zu helfen, was natürlich völlig verrückt war, und hab’s dann selber abgekriegt, weiß nur, dass ich Rippenprellungen hatte und mir einiges wehtat, und ich auch geschrien hab, weil ich völlig verwirrt war, was da mir jetzt angetan wird, und zu mir eilte dann Carsten, den hat's dann selber auch erwischt, wurde selber auch zusammengeprügelt, jedenfalls fanden wir uns dann aufm LKW wieder mit vielen anderen, denen auch einiges weh tat, und da hab ich auch nur geheult, weil ich völlig fassungslos war, was geht jetzt hier ab."

Carsten Hopke und Angelika Otto sind bei weitem nicht die einzigen unbeteiligten Passanten, die in dieser Nacht von Sicherheitskräften verprügelt und "zugeführt" werden, wie es im DDR-Ämterdeutsch hieß.

Polizei: "Räumen sie das Gelände!"

Kurz vor Mitternacht spitzt sich die Situation zu. Einige Demonstranten haben sich in die Gethsemanekirche zurückgezogen. Die Restlichen werden von der Polizei eingekesselt. Auch dem tschechischen Fernsehteam wird der Fluchtweg abgesperrt.

Demonstranten: "… nicht, dass sie Euch die Kamera wegnehmen. Müsst ihr verstecken! Weil hier kommt ihr jetzt nicht mehr raus. Verstehst du mich?"

Kurz darauf bricht das Signal ab. Die Aufnahmen verschwinden – und tauchen erst nach der Wende wieder auf, nach der Räumung einer Stasi-Wohnung.
Den Übergriff auf Klaus Laabs fängt keine Kamera ein.

Laabs: "Ich hab einen Offizier angesprochen, hab ihn gefragt, ob er Kinder hat, sagt er ja, und dann hab ich ihn gefragt, ob er sich vorstellen könnte, dass auch die demonstrieren und bei solcher Demonstration dabei sein könnten, und dann schnippte der nur mit den Fingern und dann sprangen da irgendwelche Büttel aus dem Hintergrund auf mich zu, und erst mal schlugen sie auf mich ein, und dann haben sie mich halt auf einen LKW verfrachtet …"

Von den brutalen Übergriffen dieser Nacht existieren nur vereinzelte Filmsequenzen.
Drei Polizisten dreschen mit Schlagstöcken auf eine am Boden liegende, verzweifelt schreiende Frau ein.

Klaus Laabs versucht noch, sich seiner Festnahme zu entziehen und springt von der Ladefläche des LKW …

Laabs: "… und dann bin ich aber beim Abspringen unglücklich aufgekommen, aufgeschlagen irgendwie, mit dem Kopf, es gibt Augenzeugen, die davon sprachen, dass ich von den nachfolgenden LKWs überrollt wurde. Mir fehlt dann einfach ziemlich viel Film, ja, vielleicht ne Viertelstunde, und dann bin ich zu mir gekommen, wieder im Krankenwagen."

Schnell ging das Gerücht herum, es gebe einen Toten, denn Klaus Laabs lag minutenlang regungslos in einer Blutlache. Drei Wochen verbrachte er anschließend im Krankenhaus, unter anderem mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma und Platzwunden am Hinterkopf.

Wendland: "Wir hatten damit gerechnet, dass man durchaus verhaftet werden kann. Dass man also in den Stasi-Knast kommt und so weiter. Aber dass man direkt geschlagen wird von den – ich sag jetzt mal – von den eigenen Leuten, also so was, das konnte sich eigentlich gar keiner vorstellen. Ja? Also dass ne Frau, die schwanger war, sich auch als Schwangere zu erkennen gegeben hat, nicht nur durch den dicken Bauch, sondern auch gesagt hat: ‚Ich bin schwanger, bitte schlagen Sie mich nicht’, dass die extra geschlagen worden ist! Und alle solche Sachen. Also wo man dachte: Das kann’s hier gar nicht geben! Das gibt’s in Chile, oder in ner anderen faschistischen Diktatur, oder so. Aber dass es hier in der friedliebenden DDR so was gibt, das hätte man sich nicht denken können."

Schambach: "Seine eigenen Menschen! Es ging ja immer um ‚unsere Menschen’. Man wurde ja immer so gerne vereinnahmt. Wir waren ja Eigentum des Staates. Dass man also diese unsere Menschen gar nicht mehr so lieb fand und gar nicht mehr so lieb hatte. Das war schon ne neue Qualität. Und dass man's auch gezeigt hat. Wir haben Euch nicht mehr lieb! Weil ihr nicht pariert, in dem Moment!"

Mehr als 1000 Personen werden an diesem Abend festgenommen. Die Gethsemanekirche setzt nach den Übergriffen ihre Mahnwachen fort – und fordert nun auch die Freilassung der politischen Gefangenen des siebenten Oktober. Gottfried Forck, damals Bischof der Evangelischen Kirche von Brandenburg und Ostberlin, bemüht sich persönlich um ihre Freilassung.

Forck: "Ich habe in der Stellungnahme des Politbüros nichts gelesen zu den Verhafteten, Zugeführten, noch nicht Freigelassenen. Ich denke, die erste Bitte und Forderung an den Staat, unsererseits, als Zeichen, dass hier wirklich ein neuer Weg beschritten werden soll, muss die sein, dass der Staat bereit ist, die Verhafteten freizulassen! (Applaus …) Wir haben einen Erlebnisbericht verfasst …Ruf von hinten: Mikrofon bitte näher! …und ich werde es jetzt mal vorlesen."

15. Oktober 1989. Ostberliner Kulturschaffende haben zu einer Versammlung ins Deutsche Theater eingeladen, um die Ereignisse aufzuarbeiten und dem Staat etwas entgegenzusetzen. Von der Veranstaltung existiert ein privater Tonbandmitschnitt.

Veranstaltung im DT: "Wir wurden am 7.10. um 22:30 auf der Greifswalder Straße, nähe Mollstraße, mit Stößen, Tritten und Gummiknüppeln zusammengetrieben, auf LOs verladen und in die Strafvollzugsanstalt Rummelsburg zugeführt. Mir wurden sämtliche Sachen, Effekten abgenommen. Oben mussten sich die Männer nackt ausziehen, während die Frauen an ihnen vorbeigeführt wurden. Wir hatten 30 Stunden nicht geschlafen und 14 Stunden nichts zu essen bekommen. Wir durften uns nicht hinlegen, uns war verboten, zu sprechen. Eine der Frauen wurde vor ihrer Zuführung von einem Wasserwerfer völlig durchnässt. Sie hatte keine Möglichkeit, sich zu trocknen. Auch in Rummelsburg wurde geschlagen. Ich wurde an einem Mann vorbeigeführt, der mit dem Kopf an der Wand stand und, am ganzen Körper zitternd, seinen Kopf an die Wand lehnen wollte. Gesehen habe ich dann nichts mehr, weil ich sofort zur Wand gestoßen wurde. Aber hinter mir hörte ich klatschende Geräusche. Gegen 16:30 wurde ich in eine Einzelzelle gebracht, die mir dabei angelegten Handschellen wurde mir dabei so festgeschraubt, dass mein linkes Handgelenk hinterher schwarz war und ich es nicht bewegen konnte."

Auf dieser und ähnlichen Veranstaltungen entsteht die Idee einer Großdemonstration. Am 4. November werden eine Millionen Menschen durch Berlin ziehen und "Freie Wahlen" oder "Stasi in die Produktion" fordern. Eine Demonstration, vom Volk organisiert, ohne Polizeischutz.

Die Autorität der SED ist gebrochen. Auf dieser Veranstaltung sprechen Menschen ins Mikrofon, die bis dahin Staatsfeinde waren, und das Volk findet seine Sprache wieder. Diese Demonstration ist auch die Antwort auf die Erlebnisse des 7. Oktober 1989.

Laabs: "Für uns war das ein Schock, und für mich war auch klar, das ist ne Nacht, die ich mein Lebtag lang nicht vergessen werde. Und man hatte das Gefühl, irgendwo: Jetzt passiert Geschichte. Ja?"

Geschichte passierte.

Und die Gethsemanekirche setzte, in der Tradition des Herbstes von 1989, ihr sozial- und friedenspolitisches Engagement fort. Bezog Stellung zum Golfkrieg oder zum Irakkrieg, mit regelmäßigen Friedensgebeten. Auch zur gewaltsamen Räumung besetzter Häuser in der Mainzer Straße in Ostberlin durch die West-Berliner Polizei 1990 bezog die Gethsemane-Gemeinde Stellung.

Wendland: "… also wir haben uns nie als politische Instanz gesehen, aber wir haben gesagt: Dieses Wort von der politischen Diakonie, also politisch als Christ zu denken, dass das für uns nach wie vor wichtig war und richtig war, und wir haben erkannt, dass wir uns, wenn wir das Evangelium ernst nehmen, nicht abseits von politischen Entscheidungen stellen können, das bedeutet dann auf der anderen Seite aber auch, dass ich mich für den Schwachen einsetze, dass ich eben, wenn in Bosnien Unheil passiert, dass ich das dann auch beim Namen nenne, oder im Irak oder wo auch immer, dass wir uns dazu verhalten müssen."

2003 lud die Gethsemanekirche zum ökumenischen Abendmahl – trotz des Verbotes durch Papst Johannes Paul II.. Der katholische Priester Gotthold Hasenhüttl, der den Gottesdienst leitete, wurde daraufhin vom Papst suspendiert.