Es erzählt

Rezensiert von Helmut Böttiger · 04.10.2005
Der Autor Reinhard Jirgl ist ein Einzelgänger der deutschen Gegenwartsliteratur. "Abtrünnig" erzählt von einem Bauernsohn aus dem Wendland, der in Hamburg freier Journalist wird und schließlich Schriftsteller. Doch im Text geht es nicht darum, wer hier erzählt: Es erzählt. Realistische Abschnitte und Traumprotokolle gehen ineinander über.
Reinhard Jirgl ist der große Einzelgänger der deutschen Gegenwartsliteratur, so etwas Ähnliches vielleicht wie Arno Schmidt in den fünfziger und sechziger Jahren: durch seine radikal eigenwillige Rechtschreibung, sein dem Sprechstil der Figuren angepassten Satzbau, seine expressiven Satzzeichen hebt er sich schon im Schriftbild sehr stark von anderen Schriftstellern ab. Jirgl ist in den letzten Jahren fast schon zu einer Symbolfigur für literarische Diskussionen geworden: Er hat nichts zu tun mit Gefälligkeit, mit einer anspruchslosen Verständlichkeit, und deswegen ist er auch für viele Angestellte des Literaturbetriebs ein großes Feindbild.

Jirgl zieht auch in seinem neuesten Roman wieder alle Register seiner Ästhetik. "Abtrünnig" erzählt das Leben eines Bauernsohns aus dem Wendland, der in Hamburg freier Journalist wird und schließlich Schriftsteller. Die Handlung wird angetrieben durch die Beziehung des Helden zu seiner Psychotherapeutin. Sie überredet ihn, einen eindeutigen Schritt zu machen und eine freie Schriftstellerexistenz in Berlin zu beginnen.

Die eigentümliche "Schwärze", die Jirgls Literatur schon immer ausgezeichnet hat, tritt auch hier wieder vom ersten Satz an zutage: das Leben der Bauern im Wendland und die Beziehung zum Vater zeigt keinerlei romantische oder sehnsüchtige Züge; bereits diese Kapitel sind eine sarkastische Abrechnung mit gesellschaftlichen Übereinkünften, mit dem Einverständnis.

Der Held widersetzt sich jeglichem Konsens. Auch die zwölfjährige Ehe mit Elisabeth, die im Rückblick kurz auftaucht, hat nur in den Anfängen einige positive Züge. Schnell stellt sich der zermürbende Alltag ein. Und in der Beziehung zur Psychotherapeutin wird der Held zum Spielball seiner Emotionen und der gesellschaftlichen Riten. Er hat keine Chance gegen den Ehemann, einen reichen Immobilienmakler, und gegen den anderen Geliebten der Frau, einem italienischen Kollegen von ihr.

Diese vordergründigen Handlungselemente sind jedoch nicht das Wesentliche dieses Romans. Er wird getragen von atmosphärisch dichten Sequenzen, von bedrängenden Großstadtbildern in Döblinscher Tradition, von harten Milieuschilderungen, von bis ins kleinste Detail ausgeleuchteten psychischen Normal- und Ausnahmezuständen. Die einzelnen Passagen sind nicht chronologisch geordnet, sie stehen in einer Art Clustertechnik zunächst scheinbar unvermittelt nebeneinander und ergeben erst mit der Zeit eine ungewohnte Ästhetik der Gleichzeitigkeit.

Erzählerische Abschnitte, die durchaus eine beträchtliche Spannung erzeugen, kontrastieren mit essayistisch-theoretischen Einschüben, die das Ganze zu einem zeitgenössischen Bewussteinspanorama ausweiten. Es geht bald nicht mehr darum, wer hier erzählt: Es erzählt. Realistische Abschnitte und Traumprotokolle sind immer weniger voneinander zu trennen.

Das wirkt umso suggestiver, da der Roman penibel genau gebaut ist: in seiner Ästhetik der Gleichzeitigkeit gibt es ständig Passagen, die fern auseinander liegen, aber sich dennoch aufeinander beziehen. Jirgl entwickelt für diesen Effekt eine spezielle Technik, die den Links im Internet entspricht: an einzelnen Stellen des Romans tauchen überraschende Querverweise auf frühere oder spätere Stellen auf. Das alles übt einen starken Sog aus. Gesellschaftskritik im althergebrachten Sinn hat Jirgl weit hinter sich gelassen. Aber er leuchtet das Abgründige, das Verdrängte unserer gesellschaftlichen Konventionen grell und unnachgiebig aus.


Reinhard Jirgl: "Abtrünnig - Roman aus der nervösen Zeit", Hanser Verlag