Erzählte Geschichte

Rezensiert von Wolfgang Schuller · 24.01.2010
Winkler bietet in seinem großartig erzählten und fesselnd zu lesenden Buch an vielen Stellen ganze Nationalgeschichten mit ihren konkreten Einzelheiten. So schildert er plastisch zum Beispiel die Französische Revolution oder die Entwicklung des englischen Parlamentarismus.
Was das eigentlich ist, "der Westen", das stellt Winkler nicht in einer einzigen, schnittigen und damit blutleeren Definition vor. Nur im Lauf des ganzen Buches stellen sich allmählich einige Komponenten heraus, beispielsweise:

Trennung von Religion und Staat, Rationalität und Professionalität des öffentlichen Lebens, Kritik, auch an sich selbst, Öffentlichkeit, Rechtsstaat, Toleranz, Alphabetisierung, gegen Ende des Buches dann Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte.

Auch diese Pluralität stellt, so kann man vielleicht hinzufügen, ein Charakteristikum des Westens dar. Damit ist auch deutlich, welche Länder es sind, deren Geschichte erzählt wird: Nach kursorischer Skizzierung des Altertums und einer breiteren Darstellung des Mittelalters in seiner Hochblüte sind es zweifelsfrei vor allem England und Frankreich, dann Deutschland, teilweise Italien und Spanien, aber Osteuropa nur dann, wenn sich westliche Kriterien durchgesetzt hatten (das bezieht Winkler dann auch auf Ostdeutschland östlich von Elbe und Oder) - und schließlich selbstverständlich, in derselben Ausführlichkeit wie europäische Geschichte, die USA und Kanada; Lateinamerika nur gelegentlich.

Es ist kein naives Buch, das nur eine Geschichte dessen wäre, wie man es ständig so herrlich weit gebracht habe. Im Gegenteil nehmen die Rückschritte und Verstöße gegen die eigenen Prinzipien breiten Raum ein.

"Die Zurückdrängung und weitgehende Ausrottung der Indianer trug weite Züge eines Völkermords … "

Oder: Im Kongo etwa ging im 19. Jahrhundert die Bevölkerung um die Hälfte zurück, hervorgerufen durch millionenfache …

" … Morde, Tod durch Verhungern, Erschöpfung, Obdachlosigkeit und Krankheit."

Es ist ein weiteres Charakteristikum des Westens, dass der Widerstand gegen diese eklatanten Verletzungen elementarster Menschenrechte aus den westlichen Ländern selbst kam und sie selbst letztlich beenden konnte - so weit vieles nicht unwiederbringlich verloren war wie die Ausrottung der nordamerikanischen Indianer.

Ebenso ging die Emanzipation der Juden zwar auch von ihnen selbst aus, kam aber auch aus dem nichtjüdischen Bevölkerungsteil. Für Deutschland lässt sich daher sagen - das Buch endet, wohlgemerkt, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs:

"Was immer deutsche Judenfeinde sagten und taten, für die überwiegende Mehrheit der deutschen Juden war Deutschland ein Land der Aufklärung, des Rechts und des kulturellen Fortschritts: ihr Vaterland."

Aber für andere Länder des Westens - hier nun gerade nicht für Osteuropa - gilt ähnliches.

Auch die Arbeiterbewegung zeigt anschaulich, wie katastrophale gesellschaftliche Zustände aus der Gesellschaft selbst, ja, von den Unterdrückten selbst bekämpft wurden. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lautet die Bilanz so, dass es viel gab …

" … was die Sozialdemokraten und ihre Anhänger an ihre Staaten band: verbürgte Freiheitsrechte, organisatorische Spielräume und nicht zuletzt das, was sie an sozialen Errungenschaften bereits erkämpft hatten."

Winkler bietet in seinem großartig erzählten und fesselnd zu lesenden Buch an vielen Stellen ganze Nationalgeschichten mit ihren konkreten Einzelheiten. So schildert er plastisch zum Beispiel die gesamte Französische Revolution mit der napoleonischen Zeit oder die immer weitere Entwicklung des englischen Parlamentarismus im 19. Jahrhundert, und das alles in großer Gelassenheit - wenn etwas auszusetzen wäre, dann allenfalls das, dass er manchmal von seiner Erzählung fortgetrieben wird und Dinge erzählt, von denen man sich fragt, was sie mit dem allgemeinen Thema zu tun hätten. Aber auch das geschieht ja zum Nutzen der Leser.

Das Buch, dem noch ein weiterer Teil vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart folgen soll, ist anscheinend als eine Art Antwort auf Winklers vorhergehendes Werk "Deutschlands Weg nach Westen" gedacht. Wenn Deutschlands Weg nach Westen nicht gerade der zielstrebigste gewesen war, dann sehen wir jetzt, dass auch der gesamte Westen sehr verschlungene Pfade gegangen ist und weiter gehen dürfte.

Heinrich August Winkler: Die Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert
Verlag C.H.Beck, München