Erstmals auf DVD

Ildiko Enyédis "Mein 20. Jahrhundert"

Regisseurin Ildiko Enyedi mit dem Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost für den Film ON BODY AND SOUL anlässlich der Preisverleihung der Unabhängigen Jurys anlässlich der 67. Internationalen Filmfestspiele Berlin 67. Internationale Filmfestspiele Berlin Director Ildiko Enyedi with the Prize the the Berlin Morgenpost for the Film ON Body and Soul during the Award ceremony the Independent Juries during the 67 International Film Festival Berlin 67 International Film Festival Berlin
Die ungarische Regisseurin Ildiko Enyédi bei der Berlinale 2017 © imago stock&people
Von Jörg Taszmann · 15.04.2017
Auf der Berlinale wurde der neueste Film der ungarischen Regisseurin Ildiko Enyédi mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Jetzt erscheint ihr Debüt von 1989 bei einem britischen Anbieter als Import-DVD: "Mein 20. Jahrhundert" ist ein verträumt-poetisches Meisterwerk des osteuropäischen Kinos. Die Wiederentdeckung lohnt sich, sagt unser Kritiker.
Im fernen New York staunen die Besucher in einem Park bei der öffentlichen Vorstellung der elektrischen Glühbirne, während in Budapest zwei Zwillingsmädchen zur Welt kommen. Dorá und Lili verkaufen als Kinder später Zündhölzer, schlafen vor lauter Müdigkeit ein und werden getrennt. Ildiko Enyédi inszeniert diese ersten Szenen schon märchenhaft und voller Poesie. Erst Jahre später begegnen sich die beiden Schwestern erneut, jedoch ohne es zu wissen.
Auf einem Bahnhof irgendwo in Ungarn treffen zwei Züge aufeinander. Man wartet andächtig bis Mitternacht. Dann beginnt das Jahr 1900. Eine Verheißung. Im schicken Orient Express diniert Dora im Zugrestaurant und mustert schöne Männer, wenn möglich mit prall gefüllter Brieftasche. Im Zug gegenüber sitzt Lili in der Holzklasse. Sie ist überzeugte Anarchistin und fährt nach Budapest, um ein Attentat auf einen Minister durchzuführen. Zwischen den Schwestern steht der geheimnisvolle Professor Z, ein Lebemann, der beide junge Frauen umgarnt, ohne sie zu unterscheiden.

Ein poetisches Werk aus dem kommunistischen Ungarn

Entstanden war dieses poetische Werk noch im kommunistischen Ungarn. Fast unpolitisch, dabei sehr verträumt, erzählte die Filmemacherin den Übergang vom 19. zum 20.Jahrhundert mit seinen neuen Erfindungen, Hoffnungen und einem fast grenzenlosen Optimismus. Aber sie zeigt auch den Kampf der Frauen für mehr Gleichberechtigung und wie schnell aus einer Idealistin eine Attentäterin werden kann. Im Bonusmaterial erklärt die ungarische Regisseurin, wie es zur Finanzierung ihres Erstlingswerks kam, das auch durch deutsche Hilfe entstand:
"Ich versuchte es zunächst beim staatlichen Filmstudio und parallel dazu beim Hamburger Filmbüro. Sie waren die ersten, die für diesen Film Geld gaben, daraufhin unterstützte dann auch das Ungarische Studio meinen Film und reichte ihn als Projekt beim Filmministerium ein. Und so kämpften sie für mich, bis dieser Film sein relativ hohes Budget bewilligt bekam."

Hören Sie hier ein Gespräch mit Enyédi über ihren Berlinale-Film "Of Body and Soul":

Obwohl ihr Diplomfilm verboten worden war, ließ sich Ildiko Enyédi nie abschrecken und sicherte sich beharrlich die Finanzierung für "Mein XX. Jahrhundert". Das erzählt die sensible Regisseurin dem Filmemacher Peter Strickland in diesem Interview auf der DVD. Als sie dann 1988 mit den Dreharbeiten begann, fiel das in eine historisch wichtige Epoche. Auch Mitglieder der Kommunistischen Partei Ungarns spürten einen nahenden Wechsel.
"Den Sozialismus nahm keiner mehr ernst. Keiner hätte vorausgesehen, wie schnell und wie radikal sich alles verändern würde, aber es roch damals einfach schon nach Freiheit. Und dieser Erstlingsfilm von mir, den ich noch im Sozialismus drehte - es war wahrscheinlich die letzte Produktion, die in diesem sozialistischen System entstand- war der Film, bei dem ich die größte Freiheit hatte. In meiner gesamten Karriere."

Exquisite Bildkompositionen

Ildiko Enyédi erhielt ein komfortables Budget und 72 Drehtage für diesen historischen Film und niemand mischte sich ein. Es fand weder eine politische noch eine wirtschaftliche Zensur statt. Die Regisseurin durfte sogar im klassischen Format 4:3 auf einem speziellen Kodakfilm drehen. Die in betörendem Schwarzweiß gefilmten, exquisiten Bildkompositionen von Kameramann Tibor Mathé machen die große Stärke und Faszination dieses Filmes aus, der schon vor über 28 Jahren nicht nur in Ungarn, sondern auch im damals noch politisch geteilten Europa aus dem Rahmen fiel. Ildiko Enyédi weiß, was sie ihrem Kameramann verdankt.
"Im Film habe ich einen wunderbaren Mitstreiter und das ist Tibor Mathé, ein großartiger Chefkameramann. Er war etwas älter als ich und somit auch erfahrener, aber mit ihm wusste ich immer, dass er sich nicht in technischen Einzelheiten und einer gewissen Kamera-Ästhetik verlieren wird. Er wusste immer ganz genau, welche Rolle eine Einstellung innerhalb einer Szene spielte und was diese Szene für den gesamten Film bedeutet."
"Mein 20.Jahrhundert" galt 1989 als kleine Sensation, wurde von Kritikern gefeiert und erhielt in Cannes die Goldene Kamera. Es ist ein Film aus einer anderen Epoche, als man in Osteuropa Zeit und Raum ganz anders definierte, bewusst in Schwarzweiß drehte und auf Poesie und Magie setzte. Man kann nur dankbar sein, dass in Großbritannien diese vorzüglich ausgestattete auf Blu Ray und DVD erschienen ist, die diesem kleinen Meisterwerk gerecht wird.

My 20th Century
von Ildiko Enyédi
Ungarn 1989, 103 Minuten
erschienen bei Second Run, ca. 16 Euro

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