Erster Weltkrieg

Schonungslose Analyse der deutschen Schuld

Nachdem am 1. August 1914 durch Kaiser Wilhelm II. die allgemeine Mobilmachung verkündet worden ist, ziehen deutsche Soldaten in den Krieg (Aufnahme vom August 1914). Am 28. Juni 1914 war in Sarajevo der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand durch serbische Nationalisten ermordet worden. In der Folge erklärte Wien am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg. Der Konflikt entwickelte aufgrund der europäischen Bündnisverpflichtungen und Generalstabsabmachungen in kurzer Zeit zu einem Weltkrieg. Am 1. August 1914 erfolgte die Kriegserklärung Deutschlands an Rußland, zwei Tage später an Frankreich.
Nachdem am 1. August 1914 durch Kaiser Wilhelm II. die allgemeine Mobilmachung verkündet worden ist, ziehen deutsche Soldaten in den Krieg. © dpa picture alliance
Von Winfried Sträter  · 21.06.2014
Einhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs gehen die Deutschen entspannt mit ihrer Schuld am Ersten Weltkrieg um - auch, weil viele Autoren inzwischen die Mitschuld anderer Nationen hervorheben. Jörn Leonhard schaut trotzdem intensiv auf das deutsche Kaiserreich.
Deutschland, ein Sommermärchen. Hundert Jahre danach setzen wir uns entspannt auf die Couch, lassen uns noch einmal erzählen, wie das Jahrhundert der Weltkriege begann und dürfen dabei das Büßergewand ablegen. Wir sind's nicht gewesen, die anderen waren's mindestens ebenso sehr.
Mag die neue Weltkriegsliteratur einen Regalmeter nach dem anderen füllen: Was hängen zu bleiben scheint, ist die Entlastung, die uns Christopher Clark mit seinen "Schlafwandlern" beschert hat. Serbien, Russland, Frankreich, England und dann natürlich auch Deutschland. Alle haben ihr Spiel gespielt, das am 1. August 1914 blutiger Ernst wurde.
Fritz Fischers Anklage aus dem Jahr 1961, Deutschlands Griff nach der Weltmacht habe den Krieg provoziert, ist überholt.
Christopher Clark bedient ein starkes Verlangen
Man stelle sich vor, eine so starke Relativierung deutscher Schuld wäre im Kalten Krieg versucht worden. Eine wütende Debatte wäre entbrannt. Wie 1986/87, als das Ansinnen, NS-Verbrechen mit anderen Jahrhundertverbrechen, mit dem Gulag, zu vergleichen, einen Sturm der Entrüstung entfachte.
Die damals Entrüsteten geben heute in der Regel zu, dass das Ansinnen gar nicht so abwegig war. Heute wird der Mann, der die deutsche Kriegsschuld relativiert, in der Fachpresse oder im Feuilleton gelegentlich kritisiert, aber er ist kein umstrittener Autor, gegen den sich eine Kritikerfront aufgebaut hätte.
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Jörn Leonhard: "Die Büchse der Pandora"© C. H. Beck Verlag
Clark bedient ein starkes Verlangen. Erinnern wir uns an die Goldhagen-Debatte in den 90er Jahren. Daniel Goldhagen zeichnete das Bild von Nazideutschland als einem Volk von willigen Vollstreckern. Und hatte mit dieser eigentlich niederschmetternden Botschaft eine ungeahnte Resonanz, weil er eine erfreuliche Botschaft damit verband:
Ihr Deutschen habt aus der Geschichte gelernt, Ihr seid ein anderes Volk geworden. Endlich Entlastung, nach Jahrzehnten der Vergangenheitsbewältigung. Das ist verständlich, jedenfalls nicht bedrohlich - zumal wenn man in diesen Monaten des Weltkriegserinnerns beobachtet, wie unaufgeregt und zivil das Gefühl der Entlastung von historischer Alleinschuld genossen wird.
Jörn Leonhards Werk überragt alle anderen
Wer im Übrigen in der Flut der neuen Weltkriegsbücher nach der Publikation sucht, die in der Anlage, Breite und Tiefe der Darstellung alles andere überragt, wird nicht "Die Schlafwandler" aus dem Regal ziehen, sondern "Die Büchse der Pandora" des Freiburger Historikers Jörn Leonhard.
Er widmet sich dem gesamten Kriegsgeschehen - und in der Analyse des Kriegsausbruchs schaut er - anders als Clark - genau hin, was die deutsche Führung vor dem 1. August 1914 tut. Und dabei kommt das Kaiserreich nicht gut weg.

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges
C.H. Beck Verlag München Februar 2014
1157 Seiten, 38,00 Euro, auch als ebook

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