Erste "Wohnmaschine" in Marseille

Leben in Le Corbusiers Architekturikone

Von Tanja Runow · 27.08.2015
Als "Stadt in der Stadt" hat Le Corbusier seine Unités mit mehr als 300 Wohnungen, Geschäften und Kino auf dem Dach geplant. Kein Wunder, dass sich dort heute auch Gentrifizierungsprozesse vollziehen. Die Unité in Marseille ist heute vor allem eine schicke Adresse.
Ein Haus wie ein Ozeandampfer. Kurz hinter der Bucht von Marseille auf Grund gelaufen. Fensterreihen, eine dicht über der anderen, 18 Stockwerke hoch. Auf dem Dach ein stattlicher Schornstein. Auf den zweiten Blick, Ernüchterung: Die Fassade ist nicht strahlend weiß, sondern schmutzig grau. An einigen Stellen hat sie bereits tiefe Krater. Und im Hintergrund rauscht der mehrspurige Boulevard Michelet.
Francois Botton: "Man sieht an dieser Fassade, dass sich da schon Betonbrocken gelöst haben und abgestürzt sind. Da zum Beispiel! Jedes dieser Stücke wiegt 20 bis 50 Kilo. Da geht es also nicht nur um die Erhaltung des Gebäudes, sondern auch um die Sicherheit."
Francois Botton ist der Mann, der den Tanker ins 21. Jahrhundert hinüber retten soll. Als Architekt arbeitet er für die französische Denkmalschutzbehörde, seit gut zehn Jahren saniert er die Unité.
"Die andere Fassade haben wir schon restauriert. Und das erwies sich als ähnlich komplex wie bei einem Gemälde aus dem Mittelalter. Man denkt natürlich immer die unterste Farbschicht wär die richtige! Nun war es aber so, dass Le Corbussier das Gelb nicht gefiel, als er es aufgetragen sah. Zwei Mal hat er es überstreichen lassen."
Kloster bei Florenz als Vorbild
Ob er es jemals schaffen wird, den ganzen Kasten mit seinen über 300 Wohnungen zu überholen, bevor die andere Seite wieder zu bröckeln anfängt? Jetzt also die Ostfassade. Dann die Heizung, die Elektrik. Das ganze Gebäude, seufzt Botton, ist eigentlich am Ende seines natürlichen Lebenszyklus angekommen.
Die Lobby des Corbusier-Hauses dagegen wirkt bestens in Schuss. Sie erinnert an die Empfangshalle eines edlen Hotels: glatte, steinerne Oberflächen, viel Glas. Zwei Köpfe nicken müde aus der Portiersloge in Bottons Richtung. Sein Kollege wartet schon. Es gibt viel zu tun.
Erster Stock. Von draußen kommend wirkt das Innere der Unité geradezu finster. Ausgestorbene Flure ohne Tageslicht. Der Belag dunkel. Wie Asphalt: Die Flure waren für Le Corbusier nichts anderes als die "Straßen" seiner vertikalen Stadt.
Bunt leuchtet es nur aus den Öffnungen der farbig lackierten Wohnungstüren. Plötzlich der Eindruck von bunten Kirchenfenstern. Ein Kloster bei Florenz soll in vielerlei Hinsicht Vorbild für die Unité gewesen sein.
Mit Eintritt in die Wohnung der Familie Delemont ist es erstmal vorbei mit der sakralen Stimmung. Aber auch mit der Dunkelheit. Selbst die plüschige Sitzgruppe, der Einbauschrank und ein falscher Monet vor Strukturtapete können dem hellen luftigen Raum wenig anhaben. Nach hinten öffnet er sich auf doppelte Höhe. Und dehnt sich aus bis nach draußen, in die gläserne Loggia.
Monsieur Delemont – ein sportlicher, braun gebrannter Typ Mitte 60 – lässt sich vom Anstreichen seiner Abstellkammer abhalten und sinkt in die Polster. Er lebt seit über 40 Jahren hier. Gerne, wie er sagt.
"Mit dem Roller bin ich in ein paar Minuten am Strand. Oder zum Ausgehen in der Stadt. Mehr brauche ich nicht. Ein Einfamilienhaus auf dem Land? Auf keinen Fall!"
Generationswechsel im Architekturdenkmal
Und dann ist da noch diese besondere Stimmung im Haus, meint Delemont. Die das Leben hier ganz anders macht als in üblichen Wohnblocks dieser Größe.
"Ich kenne meinen Nachbarn sehr gut. Wenn ich ein Ei brauche für eine Soße - beziehungsweise, das macht meine Frau. (lacht). Aber wenn ich mal einen brauche, der mit anfasst. Oder einen Arzt, dann rufe ich natürlich den hier im Haus an. Der kommt dann vorbei. Das ist doch sympathisch oder? Es gibt auch Juristen, alles was Du willst. Kurz gesagt, die Leute hier haben viel Kontakt miteinander. Ich glaube das ist der wesentliche Unterschied."
Zwischenzeitlich, erinnert sich Delemont, war die Stimmung im Haus auch mal nicht ganz so gut. Etwa ein Dutzend Geschäfte gab es hier mal, erzählt er. Fast alle mussten schließen. Es kommen zwar neue Mieter in die Unité: Architekturbüros, die sich mit der Corbusier-Adresse schmücken, viele Künstler, Notare, Ärzte. Leben auf die Flure bringen sie aber nur bedingt. Das muss von den Bewohnern selbst kommen, sagt Delemont. Sein "Verein der Hausbewohner" engagiert sich dafür.
"Wir veranstalten Picknicks für alle auf dem Dach zum Beispiel. Andere fahren ins Grüne, wir gehen auf die Dachterrasse. Alle bringen ihre Körbe mit, wir stellen Stühle und Tische auf und dann essen wir da oben gemeinsam. Fast ein bisschen wie auf dem Dorf."
Auch der Partyraum, die hauseigene Bibliothek, das Kinderschwimmbecken und das Freiluftkino auf dem Dach werden vom Verein wieder gepflegt und genutzt. Die Ausstrahlung des Hauses hat das verändert. Nach und nach ziehen immer mehr junge Familien ein. Spätestens dann hat dieses Architekturdenkmal den Generationenwandel geschafft!
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