Erstaunliche Geschichten von Wissenschaftlern

Der Mann, der die Erde wiegen wollte

Ein Mann trägt das Gewicht der Erde auf seinen Schultern.
Ein Mann trägt das Gewicht der Erde auf seinen Schultern. © imago / stock&people
Richard von Schirach im Gespräch mit Joachim Scholl · 03.11.2017
Ein Student, der seinen Professor mit einem vergifteten Apfel töten will. Ein Wissenschaftler, der versucht die Erde zu wiegen. In seinem neuen Buch erzählt Richard von Schirach erstaunliche Geschichten aus der Welt der Wissenschaft.
Joachim Scholl: Der Schriftsteller Richard von Schirach ist von Hause aus Sinologe. Als Autor hat er mit seinem Bestseller "Die Nacht der Physiker" ein großes Publikum erobert, und viele Leser dürften jetzt auch zu einem neuen Buch greifen, in dem ebenfalls etliche bedeutende Physiker auftreten: "Der Mann, der die Erde wog" heißt der Band. Es sind Geschichten von Menschen, deren Entdeckungen die Welt veränderten, so der Untertitel. Guten Tag, willkommen im Deutschlandfunk Kultur, Richard von Schirach.
Richard von Schirach: Guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Herr von Schirach, wer war denn dieser Mann, der die Erde wog?

Der Mann, der die Erde wog

von Schirach: Das war ein exzentrischer Engländer, groß gewachsen, ein Menschenfeind, der über ein ungeheures Vermögen verfügte und einer der begabtesten Naturforscher Englands war und die Neigung hatte, nichts zu veröffentlichen. Deswegen ist er auch nicht so bekannt, wie er sein sollte.
Scholl: Herr Cavendish.
von Schirach: Der Henry Cavendish. Ich will nur an eine Entdeckung von ihm erinnern. Er hat als erster Mensch diese Vier-Elemente-Lehre des Altertums umgestoßen, die davon ausging, dass alle Gegenstände aus Erde, Luft, Feuer und Wasser – die galten als die vier Grundelemente, und Cavendish hat nachgewiesen, dass Wasser natürlich kein Element ist, sondern aus Wasserstoff und Sauerstoff besteht. Aus dieser Cavendish-Geschichte, die mich sehr auch amüsiert hat, die zu schreiben, entwickeln sich uns spinnen sich fort weitere andere Geschichten, die seine Freunde mit einbeziehen, und auch zum Beispiel die wunderbare Geschichte, wie eine musikalisch sehr begabte Familie aus Hannover flieht zur Zeit von Georg II. und in London sich niederlässt auf der Flucht und dort Opern komponiert und das ganze Musikleben Englands auf den Kopf stellt, und dann von einem Tag auf den anderen sich in die Astrophysik begibt.

Der Mann, der den ersten Planeten entdeckte

Das war der William Herschel, der später in England geadelt wurde, der Mann, der den ersten Planeten entdeckte der Neuzeit. Also, ich habe eine Fülle von Geschichten, eine Fülle von Figuren. Es fällt mir jetzt direkt schwer, mich so für den Cavendish gerade zu begeistern, weil ich gestern so viel zu tun hatte mit der Geschichte von dem Nerz …

Mit unserem Literaturkritiker Günther Wessel haben wir uns über Richard von Schirachs Buch unterhalten. Hören Sie hier das Gespräch:
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Scholl: Aber Herr von Schirach, es ist natürlich wirklich bemerkenswert, dass so ein Mann wie Herr Cavendish, der wirklich also es geschafft hat, mit waghalsigen Apparaturen wirklich das Gewicht der Erde relativ exakt zu bestimmen, dass man den eigentlich nicht kennt. Und da ist Ihr Buch wirklich ein Füllhorn von Entdeckungen. Sie beginnen Ihr Buch aber auch mit einer persönlichen Geschichte, wie Sie als Literaturstudent in Italien gereist sind, auf den Spuren von Ludwig Boltzmann, ein Vordenker der revolutionären neuen Physik des 20. Jahrhunderts. Und in Triest hat er seinem Leben tragisch ein Ende gesetzt.
Und Jahrzehnte danach sind Sie selbst dort gewesen, mit Rilke-Versen im Kopf, weil Boltzmann nämlich genau da, wo Rilke seine "Duineser Elegien" geschrieben hat, gestorben ist. Und kurz darauf, schreiben Sie, gab ich mein Germanistikstudium auf. Das ist auch eine Erfahrung, eine plötzliche Wende. Sie wollten mehr Welt erfahren, haben Sie geschrieben. Was bedeutet das?
Richard von Schirach
Richard von Schirach © imago / stock&people
von Schirach: Die Geschichte war natürlich so mit dem Boltzmann: Ich war in Duino, das haben wir aufgesucht gerade im Hinblick auf die "Duineser Elegien" von Rilke, und hatte keine Ahnung, wer dieser Boltzmann war. Ich habe erst Jahre später erfahren, was für eine bedeutende Rolle der spielte, der ausgerechnet in Duino seinen Schicksalsort gefunden hat und sich dort erhängte. Der ist mir sehr nachgegangen, denn er führte hinein in die Physik. Ganz wichtig auch das ganze Feld der Thermodynamik, die mich gelangweilt hat. Ich wusste nicht, was es heißt, Thermodynamik. Ich wusste nicht, dass es einfach die Beziehung zwischen Wärme und Bewegung darstellt. Und ich habe dann Abbitte geleistet dem Boltzmann gegenüber. Aber das kam erst sehr viel später. Dass man nach Jahren des Germanistikstudiums irgendwie sagt, ich will nicht in Marbach enden, die Welt ist etwas größer, ist eine ganz gesunde Reaktion, finde ich, und ich habe ihr auch viel verdankt. Ich bin damals ein paar Jahre nach China gegangen.
Scholl: Und dann gab es ein vergilbtes Büchlein bei einem Trödler, worin eben jenes ominöse Wort "Thermodynamik" auftauchte, das Sie dann angesteckt hat. Das Buch hätte Sie gefunden, schreiben Sie. Was passierte denn dann?

Spießbürger mit kühnen Gedanken

von Schirach: In diesem Buch wurde der auch völlig vergessene Maier, Robert Maier, erwähnt, der mich fasziniert hat. Denn es ist ein klassischer Fall für Genie und Wahnsinn. Ich beschäftige mich ja mit vielen außergewöhnlichen Menschen, die zum Teil auch ganz spießbürgerlich sind. Es muss nicht immer sein, dass der kühnste Denker einen ganz ungewöhnlichen Lebensstil pflegt. Zum Beispiel einer meiner Lieblinge, der Gustav Kirchhoff, hat einen solchen Tagesablauf geführt, so pedantisch, wie wir das eigentlich nur kennen vielleicht von Thomas Mann oder Richard Strauss. Und dennoch waren die kühnsten Gedanken in seinem Kopf, und er hat uns wunderbare Entdeckungen geschenkt.

Die unterschiedlichen Temperaturen von Wellen

Und mit diesem Robert Maier, den ich in diesem vergilbten Büchlein gefunden habe, ist mir klar geworden, was eigentlich das ganz Exzeptionelle an der Begabung ist: Er war als Schiffsarzt in Sumatra, und ihm fallen zwei Dinge auf, die jedem von uns auch auffallen würden, nämlich, wenn du schneidest und operierst, ist das Blut der Europäer viel heller als in Europa. Das war die eine Beobachtung, und die Zweite war, dass er beim Baden gemerkt hat, dass die Wellenkämme an der Spitze eine andere Temperatur haben wie am Fuß der Welle, sagen wir mal. Diese beiden seltsamen Beobachtungen erkannte er, dass beide aus einem Zusammenhang entstanden sind. Und daraus findet er dieses erste großartige und für das 19. Jahrhundert sehr wichtige Gesetz der Erhaltung der Energie. Ich meine, das ist exzeptionell, dass jemand diese zwei Beobachtungen auf einen Grund zurückführt.

Der Student, der seinem Prof vergiften wollte

Scholl: In Ihrem Buch, Herr von Schirach, da erleben wir auch Szenen wie aus einem Kriminalstück, also zum Beispiel den 22-jährigen Studenten Robert Oppenheimer, also einer der Väter der Atombombe, der nach einem Chemiestudium in Harvard ziemlich gut Bescheid weiß, wie man mit Chemikalien umgeht. Und er ist so genervt von seinem Professor, dass er ihm einen Apfel mit Cyanid ins Fach legt. Das ist eigentlich eine unglaubliche Geschichte. Als ich das las, dachte ich, das gibt es ja gar nicht.
von Schirach: Mir ging es natürlich auch so. Mich hat auch dieses Gift interessiert, das er verwendet hat.
Scholl: Cyanid, das ist ja hochtödlich.
von Schirach: Das ist ein toller Hammer. Und er ist überwältigt worden von der Lässigkeit und der stillen Eleganz von diesem Blecket.
Scholl: Gott sei Dank ist es nicht zum Äußersten gekommen.
von Schirach: Da mussten aber die Eltern kommen – der Vater war sehr vermögend – und musste das ausbügeln mit einem großartigen Scheck an die Universität, damit der Sohn nicht die verlassen musste.
Aber die andere Geschichte ist natürlich auch sehr spannend, finde ich, in diesem Psychogramm, das ich von diesem jungen Oppenheimer schildere, dass er den Max Born, einen unserer Nobelpreisträger, eigentlich seelisch vernichtet hat, so schreibt es Max Born selbst.
Scholl: Herr von Schirach, diese Geschichte können wir leider nicht mehr erzählen, aber sie ist eine von vielen lesenswerten und bemerkenswerten in Ihrem Buch. Schönen Dank, dass Sie bei uns waren!
von Schirach: Herr Scholl, ich danke für die Einladung!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Richard von Schirach:
Der Mann, der die Erde wog. Geschichten von Menschen, deren Entdeckungen die Welt veränderten
Bertelsmann, 416 Seiten, 22 Euro

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