Erotik im Alter

Sex und Sehnsüchte trotz Tabus

Sexualität und Begehren kennen kein Alter.
Sexualität und Begehren kennen kein Alter. © picture alliance / dpa / David Ebener
Von Katrin Albinus · 12.06.2017
Auch alte Menschen erleben Sexualität und Erotik - oder sehnen sich zumindest danach. Bislang ist der Sexualtrieb alter Menschen allerdings kaum anerkannt. Doch einige Senioren nutzen bereits das Angebot einer Sexassistenz, um ihre Bedürfnisse zu stillen.
"Das sind so meine Utensilien. Wenn ich eine Dame hab, hab ich ein rosanes Seidentuch, ne, und sonst für den Herren ein blaues. Das Mädchen trägt rosa und der Junge trägt blau. Ja, und dann schmeiße ich das so über den nackten Körper, und dann zieh ich das so ganz langsam ab, das ist so ein wohliges Gefühl. Das weckt die Sinne!"
Ursula breitet ein paar Gegenstände auf dem Doppelbett in ihrem Arbeitszimmer aus. Um sie herum große verspiegelte Kleiderschränke. Vor den Fenstern aprikot-farbene Vorhänge, auf dem Bett eine Decke im selben Farbton. Darauf jetzt ein paar Federn, ein flauschiger Staubwedel, und eine Art Perlenkette, mit großen Plastikkugeln. Manchmal arbeitet sie auch mit warmem Sand, erzählt sie, den sie im Ofen erwärmt. Und über den Körper ihrer Kunden rieseln lässt.
"Ach ja, was hab ich denn noch. Wir haben ja auch impotente Männer, und die wollen dann immer mal was ausprobieren. Und zwar ist das hier ein, ja ein Penisverstärker, da steckt man den Penis rein, und wenn man hier drauf drückt, dann dreht das Teil sich und dann kann es passieren, dass der Penis sich erregt – aber – da darf man nicht zu große Erwartungen haben, und das sind alles Dildos, verschiedene, genau."

Ursula ist eine Sexarbeiterin

Ursula ist 70, eine zierliche Frau von ein Meter 60, mit blonden, kinnlangen Haaren. Ihre Kleidung ist schlicht und elegant: brauner Rollkragenpullover, braune Hose, Lederschuhe mit kleinem Absatz, dezenter Goldschmuck.
Zu ihr kommen ältere Herren, älter noch als sie. Um ihre Dienste als Sexualassistentin in Anspruch zu nehmen. Häufig Herren, die den Umgang mit Sexarbeiterinnen nicht gewohnt sind.
"Der eine Herr, der war sehr, sehr traurig, weil seine Frau war im Heim, weil sie sehr krank war, und er hat mich dann auch angerufen und war sehr verschämt am Telefon, ob er denn mit mir überhaupt darüber reden kann. Ich sag: also mit mir kann man über alles reden, und was ist denn das Anliegen. Ja, ich möchte so gerne mal wieder eine Frau anfassen dürfen, wie sich eine Frau anfühlt. Aber dennoch hab ich ein schlechtes Gewissen meiner Frau gegenüber. Und dann hat er den Mut zusammen genommen, und ist dann auch zu mir gekommen."
Die Herren, die zu Ursula kommen, sind alleinstehend, vielleicht aber auch schon lange verheiratet. Irgendwann lässt beim Mann die Potenz nach, die Frau fühlt sich nicht mehr attraktiv. Oder ein Partner erkrankt. Über den Sex wurde sowieso nie gesprochen, jetzt wird er ganz vermieden.
"Also, diese Kunden kommen dann, weil der Druck wahrscheinlich schon so groß ist. Weil dann drückt es ja wirklich, wenn man so lange keine Erlösung hatte. Es gibt tatsächlich Männer, die sich selber nicht befriedigen mögen. Weil sie in der Kindheit wahrscheinlich mal erlebt hatten, dass sie erwischt worden sind, beim Onanieren. Und das ist dann meist die ältere Generation, dann wurde gesagt, du wirst krank, und das ist überhaupt nicht gut, wenn man sich da selber anfasst. Dann hab ich schon das Gespräch, dass ich versuche, ihm klar zu machen, dass er sich ruhig selber anfassen darf, denn das, was früher war, ist ja jetzt vorbei. Aber das würde dann wieder eine Therapiestunde sein, wenn sie das dann nicht wollen, geh ich da auch nicht weiter drauf ein. Wenn sie sagen: nö, dann komm ich lieber zu dir, du machst das ja ganz gut."

Sexualität alter Menschen ist ein Tabu

Für alte Menschen ist Sexualität ein Tabu. Doch auch die Sexualität alter Menschen ist ein Tabu. Die Mutter, der Vater, die Oma, der Opa. Die sind vor allem alt, nett und gebrechlich. Schwerhörig, vergesslich, verschrumpelt. Die interessieren sich für ihre Nachbarn, ihren Hund, ihr Essen, ihre Krankheiten. Aber sicher nicht für Sex. Bis auf ein paar alte Lüstlinge vielleicht, die beim Besuch der Pflegerin den Mund offensichtlich allzu voll nehmen. Ihr nach Dienstschluss eine heiße Nummer versprechen. Doch kaum jemand nimmt ernsthaft an, dass der alte Herr - käme es zum Äußersten - noch seinen Mann stehen könnte.
Untersuchungen zur Sexualität im Alter erzählen eine ganz andere Geschichte. Sexuelle Aktivitäten nehmen nicht zwangsläufig mit dem Alter ab, sondern mit der Dauer der Beziehung. Wer im Alter eine neue Beziehung beginnt, hat auch wieder mehr Sex. Viele Männer haben ab 70 leichte Erektionsstörungen, aber die wenigstens sind impotent. Und können auch jenseits der 90 noch eine Erektion haben. Ihre sexuellen Wünsche und Fantasien unterscheiden sich nicht von denen jüngerer Männer.

Erregbarkeit und Orgasmusfähigkeit bleiben unverändert

Frauen, so heißt es, würden jenseits der Menopause das Interesse an Sex verlieren, litten an Trockenheit und Schmerzen beim Verkehr. Tatsächlich kann es auch zu Beeinträchtigungen kommen, doch die Erregbarkeit und Orgasmusfähigkeit bleiben unverändert erhalten. Die meisten Frauen sind bis Ende 70 sexuell interessiert. Selbstbefriedigung ist zwar ein Tabu, wird aber von bis zu 40 Prozent der älteren Frauen "zugegeben".
Alte Menschen, die in Beziehungen leben, oder die alleinstehend und noch mobil sind, können sich ihre Sexualität selber organisieren.
Doch es gibt viele alleinstehende Menschen, die im Alter zunehmend immobil werden. Kaum noch die Wohnung verlassen. Schon gar nicht, wenn sie im vierten Stock wohnen.
"Hallo, Herr Wohlers. Darf ich reinkommen?"
"Ja, bitte."
Peter Wohlers schiebt sich mit seinem Gehwagen sehr langsam den Flur entlang. Er wohnt seit 40 Jahren in einer drei-Zimmer Wohnung im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Seit zehn Jahren lebt er allein.
"Ja, das geht alles nicht mehr so, wie früher."
Peter Wohlers Ehefrau Helga ist vor zehn Jahren gestorben. Zu den Kindern hat er kaum Kontakt, zu den Nachbarn gar keinen. Er ist zu 100 Prozent schwerbehindert, hatte fünf Schlaganfälle. Zwei Mal die Woche kommt eine Zugehfrau, putzt, macht die Wäsche. Eine andere macht das Frühstück. Sonst kommt niemand.
Vor fast einem Jahr war Peter Wohlers das letzte Mal draußen.
"Wie leben Sie jetzt heute, was machen Sie den Tag?"
"An und für sich von morgens um neun bis abends zehn Uhr hab ich den Fernseher an."
Für Menschen wie Peter Wohlers ein Angebot zu schaffen, war eines der Anliegen von Gaby Paulsen, als sie 2014 die Agentur Nessita gründete. Gaby Paulsen vermittelt Sexualassistenten direkt an Kunden oder in Pflegeeinrichtungen. An Menschen, die sich Nähe wünschen, Kontakt, Zärtlichkeit oder Sex.

Sexualassistenz auf Rezept

Der Begriff der Sexualassistenz wurde von der Holländerin Nina de Vries geprägt, stammt ursprünglich aus der Behindertenbewegung. Und wurde dann auf den Bereich der alten und pflegebedürftigen Menschen übertragen.
Stefanie Klee, die in Berlin als Sexualassistentin arbeitet, erklärt ihr Angebot.
"Ich biete das gesamte Spektrum der sexuellen Dienstleistungen an, und richte mich danach, was die Kunden wünschen, welche Vorstellungen sie haben, was überhaupt noch möglich ist. Das kann dann im Einzelfall eher in die Richtung Sexualerziehung sein, wenn ich mit einer älteren Dame spreche, was Selbstbefriedigung bedeutet, was der Einsatz von einem Dildo oder von einem Vibrator ist, wir einen gemeinsam kaufen, dann auch gemeinsam schauen, wie funktioniert so was, wie kann man das am eigenen Körper einsetzen, sprich: wie kommt es denn dann zu der Selbstbefriedigung. Natürlich spielt Körperkontakt, Streicheln, Massieren, nackt nebeneinander liegen, gegenseitig sich berühren, also anfassen dürfen und angefasst werden eine ganz, ganz große Rolle, und insbesondere bei den Herren spielt Verkehr, zumindest ein Orgasmus eine große Rolle."
In den Niederlanden gibt es Sexualassistenz in Ausnahmefällen schon auf Rezept: wenn Menschen mit Behinderung und geringen finanziellen Mittel per ärztlichem Attest nachweisen, dass sie sich selber nicht befriedigen können. In Deutschland bisher nicht möglich, auch Stefanie Klee wäre dafür. Doch das Thema ist zumindest in die Diskussion geraten.
Stefanie Klee ist seit über 30 Jahren Sexarbeiterin, bietet als Sexualassistentin auch Geschlechtsverkehr an. Sie betrachtet ihren Job als ein Segment der Prostitution.

Kuscheln und Zärtlichkeit im Vordergrund

Nessita bietet ausdrücklich keinen Geschlechtsverkehr an.
"Das hat bei mir ganz pragmatische Gründe, weil in dem Moment, wo Geschlechtsverkehr und Oralverkehr stattfindet, gibt es eine Meldepflicht, und auch eine vorgeschriebene Gesundheitsuntersuchung, die ich weiß nicht genau in welchen Abständen wiederholt werden muss, und ich möchte mich mit dieser Verantwortung nicht belasten."
Die Sexualassistenten Ulf und Ursula, die für Nessita arbeiten, beschreiben ihr Angebot entsprechend etwas anders. Für sie stehen Kuscheln und Zärtlichkeit im Vordergrund, sie bieten tantrische Massage an, oder auch mal eine Handentspannung.
"Ich sehe das nicht als Prostitution, sondern es ist ein Angebot, Menschen Nähe zu geben."
"Also, ich habe 20 Jahre meine Seele verkauft, als ich Buchhalterin war. Das war Prostutution. Ich kann das Wort nicht aussprechen..."
"Auch wenn es sich jetzt sehr nebulös anhört und nicht so konkret, aber die Spannbreite ist groß, und in diesem Feld bewege ich mich, und wenn ein Mensch den Wunsch hat nach meiner Nähe, dann kann ich da sein."
Wenn das Bedürfnis nach Nähe und Intimität noch formuliert werden kann, am besten in den eigenen vier Wänden – umso besser.
Peter Wohlers hat über seinen Pflegedienst von Nessita erfahren.
"Was vermisst du jetzt besonders? Ist das tatsächlich die Sexualität?"
"Ja!"
"Was noch? Wie würdest du das beschreiben? Was dir fehlt?""
"Jemand, den ich in Arm nehmen kann. Man ist immer so allein. Ne."
"Dieses Bedürfnis nach Zärtlichkeit wird auch so als persönlicher Mangel empfunden. Ich suche mir da Unterstützung oder Hilfe, weil ich sie mir selbst nicht geben kann. In den Anfragen fällt mir häufig auf, ja, ich weiß, ich müsste ja eigentlich selber in der Lage sein, einen Partner zu suchen – bin ich aber nicht."
In unserer scheinbar so aufgeklärten und offenen Gesellschaft, in der auch intimste Details vor der Öffentlichkeit ausgebreitet werden, sollten sexuelle Bedürfnisse kein Tabu mehr sein. Doch Menschen, die heute alt sind, haben einen Weltkrieg erlebt, sind in einer diktatorischen Gesellschaft aufgewachsen. In der Sexualität mit nur einem Partner verschämt unter der Bettdecke stattfand, der Zeugung von Nachkommen diente. Haben in der Kirche gehört, dass Sexualität schmutzig sei, eine Sünde. Haben im Krieg vielleicht sexuelle Gewalt erlebt.

Bloß nicht über Sex sprechen

Über Sex wurde nicht gesprochen, auch nicht mit den Kindern. So haben auch die Kinder nicht gelernt, mit ihren Eltern darüber zu sprechen. Und es entsteht der Eindruck, es gebe sie gar nicht: die Sexualität der Alten.
"Viele Leute denken ja, wenn man alt ist, dass alte Menschen gar keine Sexualität mehr haben. Oder wollen."
"Hast du aber 'ne Ahnung. Gerade dann ist das schön. Jemanden in Arm nehmen und streicheln, ne. Und immer schön küssen, ne. Doch, doch."
"Das heißt, im Grunde, diese Wünsche oder Fantasien oder so, das hört eigentlich gar nicht auf."
"Nee."
Müssen alte Menschen die eigenen vier Wände verlassen, kommen zu den eigenen Schwierigkeiten im Umgang mit Sex noch neue Hindernisse hinzu.
"Wenn ich in eine Einrichtung einziehe, dann erwarte ich ja nun nicht von der Pflegekraft, dass sie mich fragt: Wie war denn eigentlich so ihr Sexualleben früher? Also, das ist ja kein gängiges Interviewmodell, sag ich mal so. Und dementsprechend unsicher ist das Personal auch mit diesen Themen. Wenn ein Bewohner das plötzlich benennt, dann ist so das Erschrecken groß. Huch! Was machen wir denn jetzt mit diesem Bedürfnis?"

Offene Kommunikation fehlt

Noch gehört es nicht zu den gängigen Lösungen, Gaby Paulsen anzurufen, und eine Sexualassistentin zu bestellen. Es fehlt vor allem an offener Kommunikation, an Zeit und Raum, ungestört zu sein und an Unterstützung durch das Umfeld.
"Abenteuerlich, wie schwierig es ist, in einer Einrichtung mal für sich zu sein, als Bewohner. Ohne dass jemand reinkommt, und sagt: Jetzt ist Essen, und jetzt ist dies und das, und jetzt wird geputzt, und jetzt wird gesungen, und jetzt wird getanzt. Und das geschieht in der Regel nicht sehr diskret. Die Einrichtungen arbeiten daran, aber man muss die Mitarbeiter tatsächlich immer wieder darauf hinweisen, dass es ein persönlicher Raum ist, den man betritt bei den Bewohnern."
Selbst verheiratete Paar haben in Altenwohnheimen mitunter Schwierigkeiten, ungestört in ihrem Zimmer intim sein zu können. Wenn Angehörige, Pfleger, oder die Heimleitung nicht mitspielen, kommt es schon gar nicht zum Besuch einer Sexualassistentin.
"Darum geht es: einfach den Raum aufzumachen für Zweisamkeit. Und das genießen unsere Kunden sehr, dieses: du bist mal für mich da, wir liegen hier eine Stunde beieinander, und das ist so schön und ich genieße es auch, dich nur für mich zu haben, in dieser Zeit."
Die ablehnende Haltung gegenüber Sexualassistenten hat vor allem mit dem schlechten Ansehen von Prostitution zu tun. Die meisten Heimleiter fürchten um das Ansehen ihres Hauses, möchten nicht als Vermittler sexueller Dienste auftreten, die Einrichtung sei ja kein Seniorenpuff. Dazu kommen klischeehafte Vorstellungen über das Aussehen von Sexarbeiterinnen.
"Häufig ist ja die große Sorge, dass Sexualassistenten in High-Heels und schwarzen Netzstrumpfhosen, und toupierten Haaren die Einrichtung betreten... Nein! Das ist natürlich nicht so. Es sind ganz normale Männer und Frauen, die ganz normal gekleidet, sich kurz an- und wieder abmelden zum Besuch."

Die Kundinnen haben keine konkreten Wünsche

Es kommt zum Beispiel: Ulf.
"Na, da kommt der Ulf heute, der nimmt sich Zeit, und so. Der ist jetzt hier, alles Weitere liegt dann in meiner Hand oder in unserer Hand sozusagen, wie dann die Zeit verläuft."
Ulf ist Anfang 50. Trägt Brille und Bart, ein rotes T-shirt, Cargohosen, sportliche Lederschuhe und einen lässigen Hut. Normalerweise arbeitet er im pflegerischen Bereich. Ulf ist nicht sein richtiger Name, er möchte lieber anonym bleiben. Sein berufliches Umfeld könnte doch irritiert auf seine Tätigkeit reagieren, meint er.
Durch einen Radiobeitrag wurde Ulf auf Nessita aufmerksam, hatte Lust dazu, das Projekt zu unterstützen. Er bietet seine Dienste Männern und Frauen an, reist dafür durchs ganze Land. Wenn auch nicht sehr häufig, Männer werden selten gebucht.
Vor dem ersten Besuch informiert er sich über seine Kunden, damit das Treffen möglichst reibungslos verläuft.
"Ist der vielleicht schwerhörig, kann der noch gut sehen? Gibt es eine Hautunverträglichkeit? Wenn es dann vielleicht zur Massage kommt wegen dem Öl. Gibt es sonstige Auffälligkeiten, womit ich rechnen muss."
Noch nie ist Ulf mit einem klaren Auftrag zu einer Kundin gekommen. Die meisten wissen wohl auch vorab gar nicht genau, was sie sich wünschen.
"Ich hab bisher bei allen gemerkt, dass die Bedürftigkeit da ist nach Körperlichkeit. Und was ich auch festgestellt hab ist, dass es nicht nur unbedingt um eine sexuelle Intention geht, sondern dass es manchmal durchaus gereicht hat, dass ich diesen Menschen in dem Arm hatte, und ich merkte nach einer Zeit, der ist eingeschlafen."
"Wir haben eine Kundin in der Betreuung, die nach dem Besuch des Sexualassistenten wirklich 24 Stunden schläft. Wo dann alle schon in Sorge sind, und denken 'oh'. Aber das ist so, wir machen das ganz regelmäßig, weil das die Zeit ist, wo sie auch wirklich mal entspannt. Und das sieht man daran, dieser Erschöpfungszustand, jetzt im Anschluss, nicht weil diese Zeit miteinander jetzt so anstrengend war, sondern was alles vorher war. Ist ja ganz oft so, dass Menschen von dieser notorischen Unruhe geplagt sind, und wenn jemand 24 Stunden schläft, ist das eine ganz tolle Nachricht."
In den meisten Fällen wenden sich nicht die Kunden selbst an Nessita oder eine Sexualassistentin – sondern das Pflegepersonal oder die Heimleitung stellt den Kontakt her. Weil es Probleme gibt. Die Bewohner "herausforderndes Verhalten" zeigen, wie es in den Einrichtungen heißt.

Pflegerinnen werden belästigt

Auch Neukunden von Stephanie Klee sind in der Regel vorher auffällig geworden.
"Die zum Beispiel die Pflegekraft an die Brust fasst und sagt: Schätzchen, komm doch heute Abend nach deinem Dienst noch mal bei mir vorbei, oder die beim Waschen unter der Dusche sagen: Oh, das ist aber gerade schön im Intimbereich, das kannst du ein bisschen fester machen. Oder die völlig verwirrt über den Flur gehen und andere Bewohnerinnen, Pflegepersonal und Besucherinnen ansprechen und sagen: ich will ficken, ich will ficken, ich will ficken. Oder die Nachts in den Betten von anderen Bewohnerinnen angetroffen werden, die das entweder schön finden, und akzeptieren oder nicht schön finden.
Und das ist dann natürlich in dem Kontext nicht lustig. Das klingt dann vielleicht erst mal so nach einer Geschichte, aber da sind natürlich viele betroffen, da sind die erwachsenen Kinder, Angehörige, vielleicht ein Ehemann, der noch zuhause sitzt, betroffen. Die Herren und Damen, die im Speisesaal sitzen, fühlen sich betroffen."
Vor allem sind aber häufig Pflegerinnen betroffen. Wie zum Beispiel Maria. Sie kommt aus der Slowakei und arbeitete als 24-Stunden-Betreuungskraft für einen älteren Herren.
"Das war Ehepaar, und Ehefrau war zuhause, aber sie hat immer geschlafen, und er hat gefragt, ob ich mache Sex, oder kann das duschen und letzte Zeit, er war schon ohne Unterhose, wenn er war alleine, und er hat immer gespielt, und versucht – und immer das war Thema nur Sexualität."
Maria lebte unter einem Dach mit dem Ehepaar, war für die Pflege des Mannes zuständig, führte den Haushalt. Sich den Übergriffen zu entziehen, war praktisch unmöglich. Alle sechs Wochen fuhr sie zu ihrer Familie, vertraute sich aber niemandem an.
"Wenn ich bin nach Hause gekommen, ich hab ganz starke Depressionen, ich hab geweint, und ich konnte nicht schlafen, ich hab viel abgenommen, und das war nicht schön für mich."

Scham- und angstbesetztes Thema

Vor allem junge Pflegerinnen sind stark verunsichert durch solche Erlebnisse, und sprechen meist gar nicht darüber. Das Thema ist scham- und angstbesetzt, weiß Thomas Petras, der die Agentur leitet, die Maria vermittelte.
"Jetzt muss man auch wissen, dass viele Betreuungskräfte auch sehr zurückhaltend sind. Sie kommen ja hierher, um hier eine Dienstleistung zu erbringen, sie wollen, dass die Senioren hier zufrieden sind, das heißt, es hat einen sehr, sehr hohen Stellenwert bei den Betreuungskräften, dass sie gefallen wollen, dass sie einfach einen guten Job machen möchten."
"Ich hatte Angst zum Beispiel, dass ich verliere diese Job. Aber meine Herz hat gesagt, nein, das geht nicht so. Er hat mir gesagt, dass alles geht kaufen. Und du auch. Ja, aber das geht nicht kaufen. Das geht nicht."
Maria vertraute sich schließlich Thomas Petras an. Der sprach mit dem Kunden, welcher Besserung gelobte - aber die Übergriffe fortsetzte. Auf der Suche nach einer Lösung, stieß Thomas Petras schließlich auf das Angebot von Nessita.
"Da war ich an dem Punkt erst mal überrascht, dass es so was gibt und hab dann zu der Firma Kontakt aufgenommen, und dann ist auch eine Zeitlang regelmäßig von Nessita jemand zu dem Senior hingegangen."
"Das ist super. Das muss sagen. Ja. Wenn das hilft, das ist ganz gut. Weil ich denke, dass die Männer, wenn sie junge oder alte – sie brauchen das. Und dann die Betreuungskräfte haben Ruhe."
Auch Peter Wohlers bekommt seit einiger Zeit regelmäßig Besuch, von Diana, einer Sexualassistentin von Nessita. Gaby Paulsen hatte erzählt, Peter Wohlers sei ganz verliebt in Diana. Doch im Gespräch gibt er sich enttäuscht.
"Fühlst du dich wohl, mit Diana? Ist das schön, wenn die da ist?"
"Nee."
"Warum nicht?"
"Ganz ehrlich?"
"Ja."
"Die ist schon so alt."
"Und warum soll es eine junge Frau sein?"
"Naja, die hat noch ein bisschen mehr Feuer."
Wer lange wenig bekommen hat, sammelt wohl viele Wünsche an. Peter Wohlers verstorbene Frau saß jahrelang im Rollstuhl. Danach hatte er eine Zeit lang eine Freundin, die ebenfalls schwer krank war und verstarb. Für Peter Wohlers hieß das: fast 20 Jahre so gut wie keinen Sex. Kontakt zu Prostituierten hat er nicht.

Wohltuende Kraft einer erfüllenden Sexualität ist nicht zu leugnen

Wie viele Kunden von Nessita ist er unsicher, als er sich das erste Mal dort meldet. Hat Bedenken. Kriegen die Nachbarn vielleicht etwas mit? Wie sieht die Dame wohl aus, die kommt? Wird sie ihm gefallen? Wird sie auf seine Wünsche eingehen?
"Und macht Diana das?"
"Nee."
"Nee? Geht nicht auf deine Wünsche ein?"
"Nee. Nicht ganz."
"Was wünschst du dir denn von ihr, darf ich das fragen?"
"Ja. Wie soll ich sagen...Mehr Zärtlichkeit. Dass sie Dinge tut, die man normalerweise nicht tut."
"Und das will sie aber nicht."
"Nee."
"Ja. Aber Frau Paulsen hat das ja wahrscheinlich... du hast ja vorher mit jemandem telefoniert, ne? Wahrscheinlich mit der Frau Paulsen."
"Ja."
"Oder mit der Diana, hast du auch telefoniert?"
"Ja."
"Und die haben dir ja wahrscheinlich gesagt, was sie machen, und was sie nicht machen."
"Hmm."
"Das heißt, du wusstest schon, dass sie bestimmte Sachen nicht machen würden."
"Ja, ja."
"Aber du warst trotzdem enttäuscht."
"Ja, sicher. Ich meine, bei den Preisen."
150 Euro kostet ein Besuch pro Stunde. Sind Kunden der Meinung, zu wenig für ihr Geld zu bekommen, verweist Gaby Paulsen darauf, dass klassische Prostitution zu dem Preis sicher nicht zu haben sei. Doch die Berliner Sexualassistentin Stephanie Klee, seit Jahrzehnten im Sexgewerbe tätig, winkt ab. Prostituierte würden auch für weniger ins Haus kommen.
Für Peter Wohlers dennoch keine Option. Denn mit dem Internet kennt er sich nicht aus. Und die Telefonnummer einer Dame habe er ja nicht, erklärt er hilflos. Außerdem ist er vielleicht doch ganz zufrieden, mit Diana.
"Aber findest du das trotzdem ganz schön mit ihr?"
"Ja."
"Geht es dir besser, wenn sie da gewesen ist? Fühlst du dich dann wohl?"
"Ja."
Was steht zwischen dem Wunsch und der Erfüllung. Dem Problem und der Lösung. Wenn es doch Sexualassistenten gibt, oder eine Agentur wie Nessita, die Lösungen anbieten. Vielfach ist es die Scham, das Thema überhaupt anzusprechen, meint Gaby Paulsen.
"Die pflegenden Angehörigen schämen sich, die Betroffenen schämen sich, das Pflegepersonal schämt sich, alle schämen sich."

Sedative gegen den Sexualtrieb

Vielleicht zehn Prozent der Einrichtungen wenden sich heute an eine Sexualassistentin, wenn es zu Problemen kommt. In den meisten Fällen werden die Senioren aber gemaßregelt und isoliert, oder das Heim wendet sich an die Angehörigen, die ein ernstes Wort mit dem Vater, der Mutter sprechen sollen. Vor nicht allzu langer Zeit wurden auch noch Sedative eingesetzt, um den Sexualtrieb zu unterdrücken, erklärt Stephanie Klee.
"Die Nebenwirkungen waren immens, und führten letztendlich zur Apathie und Interessenlosigkeit. Es ist eindeutig Körperverletzung, also die Einrichtungen, die Kinder, die Ärzte, die danach fragen, begehen Körperverletzung; ob es tatsächlich noch eingesetzt wird, weiß ich nicht, aber ich kriege immer mal die eine oder andere Information und vermute, dass es noch nicht der Vergangenheit angehört."
"In der Langzeitbetreuung, wenn ich irgendwo wohne, das gilt ja auch für Behinderteneinrichtungen, dann muss ich dieses Recht auf selbstbestimmte Sexualität schon irgendwie eingeräumt bekommen."
"Die rechtliche Situation ist eindeutig. Über die Menschenrechte, und die Persönlichkeitsrechte, die abgesichert sind im Grundgesetz, hat jeder Mensch das Recht, seine Sexualität auszuleben. Das ist von Pro Familia in entsprechenden Charten ebenfalls festgelegt, und auch in der Pflegecharta, wo mehrere Einrichtungen sich verpflichtet haben, unter anderem heißt es da in Artikel drei, dass jeder sein Recht auf Sexualität ausleben kann. Aber natürlich bricht sich das Recht am anderen, d.h. die Person darf da nicht eine andere Person verletzen, übergriffig, vergewaltigend sein, und es muss natürlich im privaten Bereich und nicht in der Toilette, oder auf dem Flur, oder in dem Aufenthaltsraum stattfinden."
Meist reichen auch die finanziellen Mittel einfach nicht aus, um sich den regelmäßigen Besuch einer Sexualassistentin leisten zu können. Schon gar nicht, wenn der alte Mensch in einer Einrichtung lebt.
Doch die wohltuende Kraft einer erfüllenden Sexualität ist nicht zu leugnen. Sie wirkt ausgleichend, beruhigend und belebend zugleich. Und könnte so auch Kosten einsparen, für Medikamente, oder in der Pflege. Untersuchungen belegen, dass eine erfüllte Sexualität das Fortschreiten etwa von Demenz verlangsamt. Daher sollte die Frage nach einer Finanzierung über die Krankenkassen im Einzelfall schon ernsthaft gestellt werden.
"Und ganz klar: es macht glücklich. Durch den Kontakt, durch die Sexualität werden Glückshormone ausgeschüttet, die dazu sorgen, leichter und fröhlicher durchs Leben zu gehen, die Herausforderungen auch in Einrichtungen leichter anzugehen, auch sich neuen Menschen zuzuwenden, an den geselligen Beisammensein, oder auch an den Essensmahlzeiten freudiger teilzunehmen, sich also nicht so weit hängenzulassen. Und letztendlich, finde ich, ist das auch die große Herausforderung: Menschen im Alter dieses Erlebnis zu vermitteln, was sie glücklich sein lässt."
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