Eröffnung Literaturfestival Berlin

"Undemokratische Länder sind traurige Länder"

Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak, aufgenommen 2015 in Lissabon
Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak © imago/GlobalImagens
Von Tobias Wenzel · 06.09.2017
Mit Empathie und Fantasie gegen Populisten und Diktatoren - die Schriftstellerin Elif Shafak hat mit einer leidenschaftlichen Rede das Internationale Literaturfestival Berlin eröffnet.
Draußen vor dem Haus der Berliner Festspiele ein Mann, der versucht, antisemitische Verschwörungstheorien zu verbreiten, drinnen Polizisten unter den Besuchern – dass sich die Welt verändert hat, bemerkt man schon am ersten Tag des 17. Internationalen Literaturfestivals Berlin. Und darauf reagiert das ohnehin schon seit Jahren auf fruchtbare Weise politische Festival in diesem Jahr noch verstärkter. Während der Eröffnungsveranstaltung zuerst mit einem Film. Man müsse wieder zurück zu den Wurzeln, erzählt Festivalleiter Ulrich Schreiber. Das habe ihm das Negativbeispiel Donald Trump klargemacht. So sei die Idee zum Film entstanden.
"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen."
Nina Hoss liest den ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und dann andere Künstler und Intellektuelle, die meisten von Weltrang, die weiteren 29 Artikel, immer in ihrer Muttersprache. Zu sehen und hören sind unter anderem Ai Weiwei, Simon Rattle, Elfriede Jelinek, Patti Smith und Vivienne Westwood.
Das Recht auf Meinungsfreiheit und all die anderen Menschrechte verpackt in einen Film mit diesen Künstlern, Dichtern und Denkern berührten die Besucher merklich im nahezu ausverkauften großen Saal.

Die Demokratie in der Krise

"Ich möchte ein wenig über Emotionen reden."
So begann Elif Shafak, die türkische, sich nun in London heimisch fühlende Schriftstellerin, ihre Eröffnungsrede. Menschen hätten das Recht dazu, Gefühle wie Angst auszurücken. Man müsse ihnen zuhören, anstatt das den Populisten zu überlassen. Die Stimmung vieler Menschen scheine zurzeit zwischen Vertrauen und Hoffnungslosigkeit hin und her zu pendeln. Nicht nur die EU sei in der Krise, sondern der Demokratie-Begriff selbst.
"Besonders in Ländern wie der Türkei und im Nahen Osten höre ich Menschen sagen: ‚Demokratie ist vielleicht westlich. Vielleicht passt sie einfach nicht zu unserem Charakter, unseren Traditionen, unserer Geschichte. Vielleicht brauchen wir einen starken Führer.‘ Sie sprechen von ‚illiberalen Demokratien‘ und sogar von ‚wohlmeinende Diktaturen‘. Das ist aber eine Illusion. So etwas wie eine wohlmeinende Diktatur gibt es nicht. Und so etwas wie eine undemokratische Nation, die stabil ist, gibt es auch nicht. Undemokratische Länder sind im Grunde traurige Länder."
Dass in der Türkei die Opposition zerstritten ist, sei, so Elif Shafak, sehr traurig. Das zementiere nur den Status quo. Und wenn nicht mal Frauen zusammenhielten, nütze das nur dem patriarchalen System.
"Aufgrund von Worten können wir leicht Probleme bekommen. Alles, was man in einem Interview sagt, in einem Tweet oder Retweet kann einen so schnell in Schwierigkeiten bringen. In nur einem Tag kann man von Trollen der Regierung in den sozialen Medien angegriffen werden. Man kann vor Gericht gestellt, ins Exil getrieben und als ein Verräter abgestempelt werden. Wenn wir schreiben, haben wir dieses Wissen im Hinterkopf. Die Folge ist häufig Selbstzensur. Es fällt nicht leicht, darüber zu reden. Es ist auch etwas beschämend."

Die Welt braucht Empathie und Fantasie

Dabei denkt Elif Shafak wohl auch an sich selbst. Die Autorin war schon mal wegen angeblicher Beleidigung des Türkentums angeklagt, wurde zwar freigesprochen, beschloss aber danach, sich nie wieder politisch zu äußern. Längst ist sie aber wieder eine öffentliche, eine beherzt politische Autorin geworden:
"Es hat sich gezeigt, dass Demokratie viel zerbrechlicher ist, als wir dachten. Demokratie ist gleichsam ein Ökosystem, dem man unaufhörlich Nahrung geben und um das man sich kümmern muss. Wenn die Welt sich verändert, dann sollte sich auch die literarische Welt verändern. Deshalb möchte ich mich selbst und meine Schriftstellerkollegen dazu einladen, lauter die Stimme zu erheben zu dem, was gerade in der Welt passiert."
Zum Schluss verbreitet Elif Shafak Hoffnung in ihrer fast frei gehaltenen, klaren, sympathischen Eröffnungsrede, die Lust macht auf die kommenden zehn, garantiert sehr politischen Festivaltage. Die Welt sei heute vielleicht chaotischer als früher. Aber eine mögliche zukünftige Welt ohne Empathie und ohne Fantasie sei sicher ein viel dunklerer Ort.
"A world that has lost its imagination will surely be a much darker place."
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