Ermittlungen zur NSU waren "schauderhaft"

Barbara John im Gespräch mit Hanns Ostermann · 03.11.2012
Die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Barbara John, hat den Sicherheitsbehörden vorgeworfen, sich von Vorurteilen geleitet haben zu lassen. Lange Zeit seien die Ermittler davon ausgegangen, dass es sich bei den Tätern um Ausländer gehandelt haben müsse.
Hanns Ostermann: Sie müssen viel aushalten, und mancher dürfte sich wünschen, aus diesem Alptraum endlich aufzuwachen, doch er ist Realität. Gemeint sind die Familien, die ihre Angehörigen durch die Morde und Anschläge der Neonazi-Terrorzelle NSU verloren haben. Morgen vor einem Jahr wurde die Mordserie bekannt. Seitdem ermitteln Sicherheitsbehörden und Untersuchungsausschüsse, reiht sich ein Skandal an den anderen. Es dürfte morgen bei den zahlreichen Veranstaltungen vor allem ein trauriger und ein wütender Blick zurück werden. Barbara John ist die Beauftragte der Bundesregierung für die Opfer der Terrorgruppe NSU. Ich fragte sie zunächst: Wie groß ist die Enttäuschung bei den Betroffenen darüber, dass die Aufklärung so schleppend vorankommt?

Barbara John: Die Enttäuschung war natürlich maßlos, und zwar deshalb, weil alle Behörden, die angehört worden sind, bestätigt haben, dass sie nur in diese eine Richtung ermitteln mussten, jeder aber von uns wusste, und das haben ja auch die Nachweise ergeben, dass es da gar nichts zu ermitteln gab, weil dort die Spuren nicht hinführten. Aber dass man nie davon abgewichen ist. Und dann gab es natürlich noch die weitere Enttäuschung, dass eigentlich niemand in der Lage war, das zu sagen, was notwendig gewesen wäre, einfach: Was haben wir denn da gemacht, was sind wir denn für eine Behörde, dass wir so verbissen daran festgehalten haben? Irgendetwas stimmt mit unserer Haltung nicht. Zu dieser Aussage, die ich vollkommen normal finde, hat sich niemand durchringen können, weder von den Länderpolizeien noch vom BKA noch von den Verfassungsschutzbehörden.

Ostermann: Man muss also von einer zweiten Demütigung sprechen, nachdem zuerst, und das haben Sie eben gerade gesagt, ja auch die Familien selbst verdächtigt wurden.

John: Ja. Über Jahre. Was sie alles erzählen, über die Verdächtigungen, wie oft sie zur DNA-Probe müssen. Es gab Reisen in die Türkei, um auch noch von den Großeltern DNA zu holen. Es gab Fangfragen, es gab türkische Privatdetektive, die auf die Familien angesetzt worden waren, weil man dachte, na wenn da einer kommt und sagt, ich bin doch euer Landsmann, mir könnt ihr das mal erzählen, dass da mehr herauskommt. Und dann haben sich die Familien selber an die Polizeibehörden gewandt und haben gesagt, da rennen Leute rum, die wollen uns weiß machen, wir sollen ihnen was sagen, aber wir wissen doch nichts, was sind denn das für Leute. Also man muss sich dieses Ganze als schauderhaft vorstellen. Und die Familien sind ja sehr isoliert worden aus der Gesellschaft, weil alles in der lokalen Presse berichtet worden ist. Und auch in die Familien ist Streit und Zwietracht getrieben worden.

Ostermann: Besteht Ihre Aufgabe dann auch darin, diesen Betroffenen schlichtweg nur zuzuhören?

John: Selbstverständlich ist Zuhören der Anfang jeder Hilfe und Unterstützungsmaßnahme. Nein, meine Aufgabe ist natürlich sehr viel konkreter. Ich habe ja am Anfang die Familien gebeten, ihre Nöte und das, was sie unbedingt brauchen und wollen, darzulegen, und habe ihnen dazu eine Art Checkliste gemacht, wo ich mir selber vorgestellt habe, was ist jetzt für sie wichtig. Etwa aufenthaltsrechtliche Sicherung, Arbeitssuche, Staatsangehörigkeit unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit. Entschädigungen, Beerdigungskosten, die ja damals nicht bezahlt worden sind. Das war alles sehr teuer, und es musste ja geleistet werden von den Angehörigen. Also eine Fülle von Fragen, und diese Bedürfnisse und Nöte arbeiten wir ab. Mehrere Kinder der Erschossenen konnten nicht weiterstudieren und haben dadurch ihren BAföG-Anspruch verloren. Dann muss ein Stipendium besorgt werden. Das ist nicht einfach, weil sie auch die Förderkriterien aufgrund von Alter und von bestimmten Leistungspunkten natürlich nicht erfüllen können. Also alle diese Dinge, die bewegen mich, und das sind die – das, wo die Opfer Unterstützung brauchen.

Ostermann: Bei der Arbeit der Untersuchungsausschüsse wird immer wieder deutlich, wir haben es mit einem Struktur-, aber auch einem Mentalitätsproblem zu tun. Was wiegt schwerer?

John: Na, ich denke, das wirklich das Mentalitätsproblem, was immer das bedeutet, das hat ja Herr Edathy gesagt, dass das schwer wiegt. Und was er damit meint, ist ja nicht ganz klar geworden. Also, es gibt ja viele Mentalitäten. Für mich ist die Mentalität ausschlaggebend, dass da mit großen Vorurteilen im Kopf gehandelt worden ist, und das muss man natürlich auch aussprechen. Sie waren fixiert auf die These, wenn ein Ausländer zu Schaden kommt, können es nur andere Ausländer gewesen sein. Das ist vorurteilshaft. Und es muss uns alle erschrecken, weil vorurteilshafte Sicherheitsbehörden, die unser aller Leben schützen sollen, weil sie uns vor Straftaten bewahren sollen, auch natürlich in anderen Zusammenhängen solche falschen Schlüsse ziehen können.

Ostermann: Frau John, Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einem Abgrund zwischen den Behörden und der Politik. Sehen Sie da nach einem Jahr Arbeit eigentlich nichts oder nur sehr wenig, was den Opfern Hoffnung macht?

John: Also die Opfer sind sehr starke Familien. Ich habe selten Familien erlebt, in denen man so zusammenhält und in denen das Geschehen, was vor ihnen abgelaufen ist, was sie hinter sich haben – es war ja ein Abgrund, den sie zuerst erlebt haben, als sie selber beschuldigt worden sind, und das hat ja Jahre angehalten –, diese Opfer leisten alle seelische Schwerstarbeit. Natürlich macht ihnen das zu schaffen. Und der Abgrund, den ich sehe, der ist für mich ganz offenkundig. Die Politik verspricht alles zu tun, spricht den Bund an, verspricht es auf die Länder, verspricht es natürlich auf die Sicherheitsbehörden und die Behörden denken gar nicht daran, sich an dieses Versprechen anzupassen, sondern woran sie denken, ist, wie kommen wir am besten aus dieser Chose, aus diesen nachträglich erkannten Verfehlungen raus. Und das ist, finde ich, etwas, was für die Politik ein Ausrufezeichen setzen muss. Darum müssen sie sich kümmern. Es darf nicht sein, dass die Kluft zwischen dem, was politisch gewollt wird und was die Umsetzungsbehörden, die operativen Behörden, und das ist die Polizei, dann tut, dass die so groß ist.

Ostermann: Sie fordern eine Stiftung. Was sollte die leisten?

John: Es gibt jetzt so viele Dokumente um diesen Einschnitt – Einschnitt in das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung in der Nachkriegszeit –, die alle gesammelt werden müssen, die irgendwo liegen; eines liegt bei den Länderpolizeien, ein anderes liegt beim Untersuchungsausschuss, vieles liegt bei den Familien. Ich finde, dass diese Dokumente zusammengehören. Eine solche Stiftung muss die Dokumente sammeln, muss sie verwahren, muss sie in eine Archivform bringen und muss sie öffentlich zugänglich machen, weil wir unendlich viel daraus lernen können. Zum Beispiel, wie Polizeiarbeit nicht aussehen darf in einem Einwanderungsland; wie Opfer ein Jahrzehnt lang vollkommen allein gelassen werden. Auch für die Opferarbeit in der Zukunft können wir viel daraus lernen. Und auch – eine solche Stiftung könnte auch immer wieder darauf hinwirken, dass Behörden sehr viel zugewandter sind, wenn es um Opfer geht. Das alles wird nicht in Deutschland gemacht. Und ein weiterer Vorteil wäre, dass die Familien in diese Stiftung eingebunden werden können. Sie müssen wieder aktiv werden, sie müssen zeigen, dass sie etwas zu sagen haben, dass sie etwas beizutragen haben.

Ostermann: Morgen jährt sich zum ersten Mal die Aufdeckung der Mordserie des rechtsextremen Zwickauer Terrortrios. Ich sprach mit Barbara John, der Ombudsfrau für die Opfer und Hinterbliebenen. Frau John, danke für das Gespräch.

John: Ich danke auch.

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