Erinnerungsbuch

Grabenkämpfe in der Theorielandschaft

Direktor Ulrich Raulff in einer Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, aufgenommen am 2.5.2011.
Direktor Ulrich Raulff in einer Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach © picture-alliance / dpa / Thomas Niedermüller
Von Catherine Newmark · 07.10.2014
Als letzte Printtankstelle vor der Datenautobahn beschreibt Ulrich Raulff diese Epoche. In "Wiedersehen mit den Siebzigern" erinnert sich der Kulturwissenschaftler an das Lesen in einer Zeit, in der die Theorie von der Uni auf die Straße hinüberschwappte.
"Wilde Jahre" waren die 1970er-Jahre sicher in vielerlei Hinsicht für jene, die in den Jahren kurz nach 1968 jung waren. Wenn Ulrich Raulff, Jahrgang 1950, in seinem neuen Buch "Wiedersehen mit den Siebzigern" von "wilden Jahren" schreibt, dann denkt er nicht etwa an Drogen oder an Politik, sondern vor allem an eine gewöhnlich mit Wildheit nicht im entferntesten in Verbindung gebrachte Handlung: ans Lesen.
Die Wildheit des Lesens in den 70ern ist für Raulff, mittlerweile Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, einerseits eine ganz individuelle: Das über weite Strecken fast intim gehaltene Erinnerungsbuch an seine Studentenjahre in Marburg, Paris und Berlin erzählt von der eigenen Lust am Lesen, die aus den Kinderjahren mitgebracht auf die Realität der deutschen und französischen Universität und Verlagswelt trifft und dort aufblüht. Er beschreibt die Begegnungen mit anderen Viellesern, die schönen alten Bibliotheken in Paris, das Büchersammeln, das zur Last wird (vor allem bei Umzügen), das Universum der Raubdrucke und erste Erlebnisse auf der Frankfurter Buchmesse.
Andererseits hebt er das Lesen auf eine allgemeine historische Ebene: Denn was wild war am Lesen in den 1970ern, ist - aus der Rückschau betrachtet - seine schiere Bedeutung. Die Tatsache, dass Theorie nicht eine obskure Beschäftigung einiger weniger Universitätsangestellter war, sondern etwas von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, das aus den Seminarräumen und Vorlesungssälen hinüberschwappte auf die Straße und auf eine Generation traf, die "tatsächlich noch an den Wert von Begriffen und ihre Bedeutung für das Leben" glaubte.
Die Droge der Theorie
Raulff erinnert sich - witzig und pointiert - an die Fraktionen und Grabenkämpfe in der Theorielandschaft und die akademischen Granden der Philosophie und Geisteswissenschaften der Zeit – sowohl in Deutschland als auch in Frankreich. "Paris hatte sich der Droge Theorie ergeben" schreibt er, und erzählt von Roland Barthes humorvollen Vorlesungen, von Michel Foucaults asketischen Veranstaltungen, vom altersmatten Gilles Deleuze. Und von der zunächst sehr zögerlichen Rezeption dieser französischen "Strukturalisten" in Deutschland (zu der er als Übersetzer u.a. von Foucault auch beigetragen hat).
Aus dem Anekdotischen und Persönlichen heraus entsteht so das Bild einer Epoche, die es nicht nur intensiv mit Theorie, sondern auch noch ausschließlich mit gedruckten Texten zu tun hatte; oder, wie Raulff mit gewagter Metaphorik schreibt, die "letzte Printtankstelle vor der Datenautobahn". Als Leserin beschleicht einen angesichts des eigenen täglichen Umgangs mit Bildschirmen hin und wieder so etwas wie Phantomnostalgie. Das Gefühl tut dem Genuss der Lektüre keinen Abbruch. Es ähnelt ein bisschen dem, was man empfindet, wenn man an einer Tankstelle unversehens eines Oldtimers gewahr wird. Was haben sie früher doch für schöne Autos gebaut!

Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens
Klett-Cotta, Stuttgart 2014
170 Seiten, 17,95 Euro

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