Erinnerungen

Mit Routinen gegen das Diktat der Grausamkeiten

Leningrad 1942 - eine Stadt gefangen in Frost und Hunger
Leningrad 1942 - eine Stadt gefangen in Frost und Hunger © picture-alliance / dpa
Von Jörg Plath · 29.04.2014
Mit Ritualen und Routinen begegneten die Leningrader dem Hunger, als die Stadt 1941 und 1942 von der Wehrmacht belagert wurde. Doch oft, so beschreibt es Lidia Ginsburg in ihren Erinnerungen, kamen sie nicht an gegen das brutale Verlangen.
872 Tage schloss die Wehrmacht Leningrad ein. Erobern wollte sie die Stadt mit 2,5 Millionen Einwohnern, darunter 400.000 Kindern, nicht. Schon im Oktober 1941, einen Monat nach Beginn der Blockade, gab es die ersten Hungertoten. Im extrem kalten Winter 1941/42 starben monatlich bis zu 100.000 Menschen. Wohl eine Million bezahlte mit dem Leben, dass die Stadt als Symbol galt, trug sie doch den Namen des Staatsgründers.
Dennoch wurde die Blockade Leningrads nicht nur im Westen als Nebenschauplatz wahrgenommen. Die Sowjetunion hielt die Opferzahlen lange niedrig und heroisierte das Überleben als Patriotismus und Parteitreue. 1984 veröffentlichte die angesehene Literaturwissenschaftlerin Lidia Ginsburg (1902-1990) in der Zeitschrift "Neva" die "Aufzeichnungen eines Blockademenschen", 1989 fasste sie diese mit Texten "Aus dem Umkreis der 'Aufzeichnungen eines Blockademenschen'" in dem Buch "Der Mensch am Schreibtisch" zusammen.
Notate, Analysen, Beobachtungen und Reflektionen
Die deutsche Neuausgabe stellt beidem "Eine Erzählung von Mitleid und Grausamkeit" voran. Die gegen Ende der Blockade 1943 oder 1944 entstandene Geschichte ist der einzige abgeschlossene Text des Bandes und die Summe aus den nachfolgenden Notaten, Analysen, Beobachtungen, Reflektionen, die auf schwer erträgliche Weise furchtbare Erfahrungen schildern.
Von Leichen auf Kinderschlitten ist knapp und vom Kannibalismus ist gar nicht die Rede. Ginsburg spricht auch nicht von sich, sie erzählt von N.A. oder B. Sie weiß mit Tolstoj und Tschechow, dass es keine "menschlichen Belange ohne Psychologie" gibt, und spürt der "Evolution" der Hungernden nach. Man isst nicht miteinander in Leningrad, sondern allein, bestenfalls mit Angehörigen: Es gibt zu wenig zu essen.
Alle Beziehungen bis auf die familiären werden aufgelöst, und im engsten Kreis zeigt sich, wozu der Mensch fähig ist. In "Eine Erzählung von Mitleid und Grausamkeit" fällt die geliebte ältere und lebenslustige Tante dem Neffen zunehmend zur Last. Der Schriftsteller teilt mit ihr seine höhere Lebensmittelzuteilung, doch die Dystrophie vernichtet ihren Lebenswillen, und ihre Schusseligkeit stört seine Versuche, den Hunger rational zu bewältigen. Nach ihrem Hungertod bleibt der Neffe voller Schuldgefühle zurück, hat er doch oft die Selbstbeherrschung verloren, war gereizt und grausam. Ginsburg verarbeitet in der Erzählung den Hungertod ihrer Mutter.
Das Unsagbare sagen
Analytisch, begrifflich und bewusst sperrig auch in der schlüssigen Neu-Übersetzung von Christiane Körner (im Frühling "wurde das Essen zum Fokus der mentalen Kräfte") sucht Ginsburg das Unsagbare zu sagen. Sie zeichnet die "Evolution" der Hungernden nach, die veränderte Wahrnehmung der Häuser und der Stadt, die Angst und die Rituale.

Sie denkt über die soziale Funktion des Schlangestehens nach, über die Wirkung der allgegenwärtigen Kälte und erwähnt, dass das "soziale Böse", der stalinistische Terror, keinesfalls ruhte. "Über den Kreis zu schreiben bedeutet, den Kreis aufzubrechen", heißt es am Ende der "Aufzeichnungen". "Immerhin irgendeine Tat. Gefundene Zeit im Meer der Verlorenen."

Lidia Ginsburg, Aufzeichnungen eines Blockademenschen
Aus dem Russischen von Christiane Körner. Mit einem Nachwort von Karl Schlögel
Bibliothek Suhrkamp. Suhrkamp Verlag. Berlin 2014
242 Seiten, 22,95 Euro
Mehr zum Thema