Erinnerung

Aufnahme von einem Land im Stillstand

Von Edelgard Abenstein · 03.03.2014
In ihrem neuen Roman kehrt Evelina Jecker Lambreva in die Heimat ihrer Kindheit zurück: nach Bulgarien. Die Erinnerungen sind von ihrem jähzornigen Vater geprägt - an dem sie aber auch liebenswerte Seiten entdeckt.
Vermutlich glorifiziert man kein Land so sehr wie die verlorene Heimat. Oder man nimmt es wie kein anderes schonungslos unter die Lupe. Die aus einem bulgarischen Bergdorf stammende Schweizer Ärztin Inna sieht sich überraschend beidem zugleich ausgesetzt, als sie zum Begräbnis ihres Vaters in ihren Geburtsort fährt.
Seit sie nach der Wende ihre Heimat verlassen hat, trifft sie zum ersten Mal alle wieder, ihre Mutter, die im Angesicht des Todes beschlossen hat, ihre zutiefst unglückliche Ehe zu verklären, längst vergessene Studienfreunde, die sich mit der postsozialistischen Misere arrangieren, und den geschiedenen Ehemann, der unter den neuen Verhältnissen Karriere gemacht hat. Es ist eine Begegnung mit einander widerstreitenden Gefühlen.
Unabweisbar wie die beklemmenden Bilder vom Leben unter einem totalitären Regime tauchen die Erinnerungen an den tyrannischen Familienpatriarchen auf, dessen Jähzorn, dessen Brutalität ihr noch heute Angst machen. Seither verquicken sich Vaterhass und Landhass in ihr auf beklemmende Weise.
Zwischen Brutalität und Zärtlichkeit
Wäre da nicht auch der zärtliche, der gute Vater, den sie liebte, wenn er ihr Grimms Märchen vorlas, hingebungsvoll 'Am Brunnen vor dem Tore' schmetterte und jeden Sommer mit ihr an die Schwarzmeerküste fuhr, wo sie vor gerührten Damen aus dem Westen auswendig den 'Erlkönig' hersagte. Seit ein gütiger Gutsbesitzer das arme Landkind in den 1930er-Jahren auf eine deutsche Schule geschickt hatte, bedeutete ihm die Sprache der Dichter und Denker alles. Gegen die Trostlosigkeit des sozialistischen Alltags verschanzte er sich zeitlebens hinter deutschen Büchern und setzte ehrgeizig darauf, dass schon die fünfeinhalbjährige Tochter akzentfreies Deutsch sprach.
Der Roman ist mit einem erkennbar hohen autobiografischen Anteil geschrieben. Viele Details teilt die Ich-Erzählerin mit der Autorin, den Besuch des Englischen Gymnasiums in Elias Canettis Geburtsort an der Donau etwa, den sich die Tochter eines verkappten Regimekritikers hart erkämpfen musste, die Ausbildung als Ärztin und die Übersiedlung in die Schweiz 1996, wo sie heute als Psychiaterin arbeitet.
Erzählt wird aus der kühlen, gleichwohl anteilnehmenden Distanz der von Außen kommenden Emigrantin. Nur der schwärmerische Legendenton, in den die Reisende ihre Naturimpressionen taucht, stört manchmal. Rückblicke auf die Kindheit, die zur dunkel schillernden Ikone des anwesend-abwesenden Vaters immer neue Mosaiksteinchen hinzufügen, werden von Passagen mit reportagehaften Zügen durchbrochen: über das Balkanland, in dem geschmuggelt, gefälscht, gestohlen, geplündert, geraubt und getäuscht wird, wo die vertrauten Seilschaften an der Spitze unbeschadet durch die Wende geschlüpft sind und sich in der neuen Freiheit nur noch unverschämter benehmen, wie der Bürgermeister, der mit schadenfrohem Verweis auf die Turbulenzen der neuen Zeit der Landärztin das Benzin verweigert.
Umso anrührender beschreibt die Autorin das bedrückende, von Armut bedrohte Leben auf dem Land, wo die Zeit stehengeblieben ist und doch, obwohl jeder gegen jeden kämpft, bei aller Hoffnungslosigkeit immer wieder Mut und Herzenswärme anzutreffen sind. Ein Lichtblick in dieser eindringlichen Momentaufnahme von einem Land im Stillstand.
Evelina Jecker Lambreva: Vaters Land
Braumüller-Verlag, Wien 2014
244 Seiten, 21,90 Euro