"Erinnert euch: Ihr wart passiv und Ihr dürft es nicht länger bleiben"

Von Hermann Schmidtendorf · 27.11.2009
Marek Edelmann, einer der Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, machte nie Aufheben um seine Taten. Er fühlte sich als Held wider Willen. Doch eine Kunstinstallation, die jetzt von Berlin aus in mehrere Städte Deutschlands und Polens geht, würde dem bescheidenen Helden sicher gefallen.
Am 18. April 1998 hatte der damalige polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski zu einer Feierstunde geladen. Der Ghettokämpfer Marek Edelman bekam den höchsten Orden Polens verliehen, den "Weißen Adler". Eine noble Geste, das wusste Edelman genau – zumal in einem Polen, dessen gesellschaftliche Ränder noch immer von antisemitischen Strömungen durchsetzt waren. Doch wieder gab es diese für seinen Geschmack viel zu edlen Worte. Edelmann, so Kwasniewski, habe "der Resignation in hoffnungsloser Lage" getrotzt und dadurch "die Legende von Massada" wieder aufleben lassen, "dem Kampf der zum Tode und zur Unsterblichkeit verurteilten Juden gegen die römischen Unterdrücker."

In seiner Dankesrede ging Edelman mit keinem Wort auf philosophische Vergleiche zwischen Römern und Nazideutschen ein, schon gar nicht auf das pathetische Lob seines eigenen Edelmuts. In schroffem Klartext meißelte Edelmann Sätze wie diese:

"Die Demokratie ist weder von Gott noch von den Menschen auf ewig gegeben. Man muss ständig um sie kämpfen. Heute entstehen schon wieder nationalistische, chauvinistische und brutale Strömungen, und wenn die Demokratie nicht beizeiten zur Vernunft kommt, wird es böse enden."

Und der unbequeme Laureat Edelman wurde noch deutlicher.

"Erinnert Euch, was Euch droht! Erinnert Euch: Ihr wart passiv und Ihr dürft es nicht länger bleiben: Auf dass es nie mehr zu einem Armenier-Gemetzel komme, nie mehr zu einem Warschauer Ghetto, zu einem Kambodscha, zu Sarajewo und Kosovo!"

"Niemals passiv sein, immer die Schwächeren in Schutz nehmen!" Das riet Edelman deutschen Jugendlichen, als er 2002 als Ehrengast am Holocaust-Gedenktag im Berliner Bundestag teilnahm.

Seit einigen Tagen ist der widerspenstige Held wieder in Berlin – posthum, im Polnischen Kulturzentrum an der Burgstraße – durch eine Kunstinstallation, die demnächst auch in Städten wie Leipzig und Warschau präsentiert werden soll. Die Berliner Aktionskünstlerin Tina Schwichtenberg hat dazu Edelmans Schlüsselrede von 1998 auf acht mal vier Metern des Erdgeschosses auf den Boden aufgetragen. Da die gesamte Seitenfront des polnischen Kulturzentrums verglast ist, können Passanten den Text schon von der Straße lesen. Dazu wurden aus Papier ausgeschnittene Buchstaben auf den Boden gelegt, die gesamte Bodenfläche mit Mehl überschüttet und hieraus die Buchstaben vorsichtig entnommen. Eine ungewöhnliche Technik für einen ungewöhnlichen Text: das Wort ist nicht erhaben, sondern im Alltagsmedium Mehl eingelassen – und kann durch einen Windstoß weggeweht werden. "Mehlart" nennt die Künstlerin ihre Herangehensweise:

"Das unterstreicht die Flüchtigkeit des Worts. Doch das Wort brennt sich in das Bildgedächtnis des Betrachters ein, und er wird sich lange an das Gesagte erinnern."

Und um das Erinnern ging es Edelman. Um das Erinnern, universelle Werte und den Kampf gegen falsche Gesten, Feigheit und Halbheiten. Als Jugendlicher schloss sich Marek Edelman in Warschau der Jugendorganisation der jüdischen sozialistischen Partei "Allgemejner Jidischer Arbeter-Bund in Russland, Lite un Poiln" an, dem Bund. Getreu den Grundsätzen des Bundes hatte sich Edelman am bewaffneten Kampf gegen die Nazis beteiligt, in den 1970er-Jahren die antikommunistische polnische Opposition unterstützt. Seine Mitgliedschaft in der Solidarnosc-Gewerkschaft brachte ihm kommunistische Gefängnishaft ein. Ein typischer Einsatz für die Schwachen im demokratischen Polen war sein Protest gegen die sogenannte Lösung des Roma-Problems in Warschau durch den Abriss deren Wohnungen.

Unaufgeregt, aber bestimmt verfocht Marek Edelman das Ideal der kämpferischen Demokratie – auch und gerade gegenüber antisemitischen Strömungen und Organisationen.

"Da gibt es eine halbfaschistische Organisation wie die NOP, die Völkische Wiedergeburt Polens. Ich denke, die sind mit internationalen faschistischen Organisationen verbunden. Die nutzen junge Menschen und Kinder zu Provokationen aus, zum Herumrufen und Graffiti-Schmieren von Parolen wie "Juden raus". Die Kinder wissen meist gar nicht, worum es geht. Die Funktionäre wollen einen Feind zeigen. Der Feind ist der Jude, den niemand kennt. Aber das macht nichts – denn ein unbekannter Feind ist ja der schlimmste Feind.

Solche Organisationen muss man verbieten. Man muss den Kern der Gruppen aufbrechen. Die vor Gericht oft angewandte Formel von der 'geringen gesellschaftlichen Schädlichkeit' solcher Handlungen darf nicht gelten. Antisemitismus ohne Juden ist reine Politik. Das soll die Gesellschaft, die Regierungen destabilisieren, und betrifft am wenigsten die Juden, die es hier ja kaum noch gibt."

Eine typische Edelman’sche Provokation, die ausdrücken will: Antisemitismus betrifft die gesamte Gesellschaft. Eine Reduzierung auf eine ewige jüdische Opferrolle kommt nicht in Frage.

Auch das Gedenken an den historischen Holocaust hat für Marek Edelman eine weiter reichende Bedeutung.

"Augenzeugen gibt es immer weniger! Nein, wir wollen keine neuen schaffen! Das Aufrechterhalten der Erinnerung wird jetzt zur Sache des Staates. In Amerika weiß ich, dass man Dokumentarfilme in den Schulen zeigt, in Polen beginnt das jetzt auch. Was damals geschah, ist eine Bruchstelle im menschlichen Denken des 20. Jahrhunderts: Deshalb wird es weiter beschäftigen, auch in der Literatur, der Malerei und anderen Künsten. Da geht es nicht nur darum, wer noch Augenzeuge ist oder nicht. Es geht um die Einstellung zum Menschen, zum menschlichen Leben, das ist das Entscheidende."

Die Künstlerin Tina Schwichtenberg mag diese Ansichten Marek Edelmans vielleicht gar nicht kennen – doch die Berliner Kunst-Installation ist genau eine jener schöpferischen Auseinandersetzungen, die für den Freiheitskämpfer Edelman Bestandteil einer Kultur des Erinnerns sind.