Eric Breitinger: "Späte Kinder"

Wenn Eltern eher wie Oma und Opa sind

Großmutter, Mutter und Tochter
Großmutter, Mutter und Tochter: Immer mehr Kinder wachsen bei Eltern auf, die auch ihre Großeltern sein könnten. © imago
Von Susanne Billig · 20.01.2016
In dieser Studie geht es um Kinder, die als Nachzügler auf die Welt kamen oder um spät geborene Einzelkinder. Eric Breitinger kombiniert in seinem Buch bewegende Fallgeschichten mit sozialwissenschaftlichen Fakten – und vernachlässigt die politische Dimension der späten Elternschaft.
"Kümmere dich um deine Mutter", sagte der Vater, bevor er mit 67 Jahren starb. Sein hoffnungslos überforderter Sohn ging erst in die dritte Klasse.

In seinem neuen Buch "Späte Kinder" befasst sich der Schweizer Eric Breitinger mit einem bislang wenig behandelten Thema: Menschen, deren Eltern bei ihrer Geburt bereits in die Jahre gekommen waren. In seiner gründlichen Studie geht es um Kinder, die als "Unfall" oder Nachzügler geboren wurden, es geht um erdrückende Liebe und fehlende Großeltern – und es geht um die Einsamkeit spät geborener Einzelkinder, die das peinlich-omihafte Benehmen ihrer Eltern gern vor den Schulfreunden verbergen würden. Auch der frühe Verlust von Vater und Mutter oder die Bürde der Pflege, wenn ein junger Mensch noch mitten in der Ausbildung steckt, sind wichtige Aspekte.

Was es im Einzelfall bedeutet, ein Kind alter Eltern zu sein, veranschaulicht der Autor an lebendig erzählten Fallgeschichten. Ein Interviewpartner erzählt spürbar erschüttert, wie er als Student mit ansehen musste, wie sein alter Vater mit dem Leben abschloss und sich zurückzog. Ein anderer wuchs mit der ständigen Prügel seines Halbbruders auf – denn in Patchworkfamilien ist der Neid auf Kinder aus anderen Ehen der Eltern nicht selten.Es gibt aber auch späte Kinder, die ihre Lebensumstände genossen haben; etwa wenn sich der pensionierte Vater stets Zeit für Unternehmungen nahm oder die Eltern eine angenehme Abgeklärtheit an den Tag legten und ihrem spät geborenen Kind außergewöhnlich viel Wertschätzung erwiesen.
Menschliche Beziehungen sind vielfältig und variabel
Interessanterweise entfalten die vielen persönlichen Geschichten des Buches einen paradoxen Nebeneffekt: In ihrer Fülle unterlaufen sie die Beschwerde des Autors über die Problematik des spät geborenen Kindes, zeigen sie doch auch, wie unendlich vielfältig und variabel menschliche Beziehungen sind. Vielleicht kann der ältere Vater mit seinem Sohn nicht mehr auf Bäume klettern, dafür hat sein Lebensrat Hand und Fuß. Und die alte Mutter vertritt vielleicht ein antiquiertes Wertesystem, dafür steht sie der Tochter in Notsituationen felsenfest zur Seite.

So hinterlässt das Buch einen gemischten Eindruck. Die Fallgeschichten bewegen und die sozialwissenschaftliche Faktenlage ist an vielen Stellen aufschlussreich und interessant, zum Beispiel eine Studie an der Universität Leipzig, wonach sich Geschwister als Angehörige unterschiedlicher Generationen wahrnehmen, wenn der Altersabstand mehr als sechs Jahre beträgt.
Eine Geschwister-Generation dauert sechs Jahre
Das ist ein großer Verlust, denn gelingende geschwisterliche Beziehungen können die am längsten dauernden, kaum aufkündbaren, egalitären Beziehungen des Lebens darstellen. Doch in der Ursachenanalyse bietet der Autor sattsam Bekanntes – Frauen bekommen ihre Kinder immer später, weil die Ansprüche an Partner- und Elternschaft gestiegen sind und Beruf und Mutterschaft sich so schlecht vereinbaren lassen.
Natürlich trifft Eric Breitinger keine Schuld daran, dass politisch hier so wenig vorankommt. Doch hätte er darauf verzichten sollten, die ärgerliche gesellschaftliche Lage am Ende seines Buches mit persönlichen Tipps zu vernebeln. Nein, es ist keine Lösung, jungen Menschen zur Gelassenheit zu raten, damit sie ihre Ansprüche an Beruf und Elternschaft nicht allzu hoch hängen und rascher Kinder in die Welt setzen – es ist naiv.

Eric Breitinger: Späte Kinder
Christoph Links Verlag, Berlin 2015
Taschenbuch, 232 Seiten, 18 Euro

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