"Erhebliche Beweisschwierigkeiten"

Wolfgang Feuerhelm im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 09.03.2010
Der Mainzer Strafrechtler Wolfgang Feuerhelm hat in der Debatte um die Verjährung von Missbrauchsfällen vor rechtspolitischen Schnellschüssen gewarnt. Eine Aufhebung der Verjährung brächte im Strafrecht keine Vorteile und käme auch dem Opferschutz nicht zugute.
Liane von Billerbeck: Immer neue Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in kirchlichen wie weltlichen Heimen und Internaten kommen an die Öffentlichkeit. Viele Opfer haben Jahre, ja Jahrzehnte gebraucht, bis sie darüber sprechen konnten. Zu groß war die Scham. Manche von ihnen werden lebenslang mit den Folgen dieser Verbrechen zu tun haben. In der Debatte um sexuelle Gewalt werden immer wieder auch Stimmen laut, die fordern, dass solche Straftaten nicht oder erst später verjähren als zehn Jahre nach der Volljährigkeit der Opfer. Wir haben uns einen Juristen eingeladen, um diese Frage auszuloten. Wolfgang Feuerhelm, Professor für Sozialrecht und Strafrecht an der Katholischen Fachhochschule Mainz. Doch zuvor zwei Stimmen, die gegensätzliche Positionen vertreten: Bundesbildungsministerin Annette Schavan und Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger:

Annette Schavan: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass zum Teil erst viele Jahre nach dem Missbrauch gesprochen wird, und da darf nicht der Eindruck entstehen, es ist so weit zurück, es ist verjährt, also ist es nicht wichtig.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Wenn erst nach 40, 50 Jahren ein Opfer selbst an die Öffentlichkeit gehen möchte oder an die richtigen staatlichen Stellen, dann nützen auch zehn Jahre Verlängerung der Verjährungsfrist nicht, und die Forderung, sie ganz aufzuheben, was wir bisher nur bei Mord und Völkermord haben, das halte ich aus grundsätzlichen Überlegungen schon für nicht den richtigen Weg, denn es gibt gute Gründe, gerade auch in diesem Bereich, wenn die Staatsanwaltschaften und die Justiz tätig werden soll, endlich auch einmal dann nach so vielen Jahren nach der Tat Schluss zu machen.

von Billerbeck: Die Justizministerin dagegen, die Bildungsministerin dafür, dass sexualisierte Gewalttaten gegen Kinder später verjähren, also länger verfolgt werden sollen. In Mainz bin ich jetzt telefonisch verbunden mit dem Juristen Wolfgang Feuerhelm. Er ist Professor für Strafrecht und Sozialrecht an der Katholischen Fachhochschule Mainz. Ich grüße Sie!

Wolfgang Feuerhelm: Guten Tag!

von Billerbeck: Wessen Ansicht teilen Sie?

Feuerhelm: Ja, also ich finde, dieses Problem bedarf einer genaueren Betrachtung. Ich bin auf alle Fälle dagegen, dass man hier rechtspolitische Schnellschüsse unternimmt. Also wir brauchen eine rationale Kriminalpolitik, und man muss über die Frage der Verjährung einen Augenblick genauer nachdenken. Und wenn man das tut, kommt man zu dem Ergebnis, dass wir von einer Aufhebung, dass wir davon keine Vorteile hätten.

von Billerbeck: Warum nicht?

Feuerhelm: Und zwar deshalb, weil die Verjährungsfristen – das ist bisher so nicht angedeutet worden – ja einen auch ganz banalen Sinn haben: Die Durchführung eines Strafprozesses bedarf ja der Beweise, und diese Beweise werden im Zeitablauf schlicht schlechter. Sachbeweise wird es in unseren Fällen sexuellen Missbrauchs, Sachbeweise – also Sachverständigengutachten, Arztgutachten – wird es nicht geben, das heißt, Sie sind angewiesen auf die Zeugenaussagen. Und die Erinnerung, das wissen wir aus der Entwicklungspsychologie, verändert sich und wird im Zweifel schwächer. Und dieses hätte zur Folge, dass es erhebliche Beweisschwierigkeiten in solchen Strafprozessen gäbe. Die nehmen zu im Zeitablauf, und es wäre dem Opferschutz nicht gedient, wenn die Gerichte deshalb in solchen Fällen vermehrt freisprechen würden. Also Vorsicht! Wir hatten, wenn man in die Geschichte guckt, im Strafrecht eine Veränderung der Verjährungsvorschriften, sexuelle Straftaten verjähren erst oder die Verjährung beginnt erst, wenn das Opfer 18 Jahre alt ist. Das ist eine ganz sinnvolle Geschichte, wobei man hier schon noch unterscheiden muss, das betrifft nur Sexualstraftaten und nicht etwa die körperliche Misshandlung. Deren Verjährung beginnt mit dem Ende der Tat. Also auch das ist eine ganz schwierige Geschichte. Im Ergebnis taugt die Verjährung nicht für einen Schnellschuss.

von Billerbeck: Aber ist es nicht trotzdem ein fatales Signal, so wie Annette Schavan das eben sagte, das ist schon so lange her, also ist es nicht wichtig. Hat sie damit nicht recht?

Feuerhelm: Nein, das finde ich nicht. Also ich finde, die Durchführung von Strafprozessen ist ja nur eine Möglichkeit der gesellschaftlichen Reaktion darauf. Es gibt ja noch eine Vielzahl anderer möglicher Reaktionen, und die, denke ich, schuldet die Gesellschaft – beispielsweise sicherzustellen, dass sich so was in diesen Organisationsstrukturen nicht wiederholt.

von Billerbeck: Trotzdem noch mal die Frage, dass wir kurz noch mal beim Strafrecht bleiben: Es wäre doch auch möglich, dass selbst wenn ein Prozess nach vielen Jahren oder Jahrzehnten stattfindet, dass die Opfer dadurch wenigstens so was wie Genugtuung bekommen, selbst wenn die Justiz diese Straftat zwar als Verbrechen einstuft, aber niemanden mehr verurteilen kann.

Feuerhelm: Sicher, das mag sein, dass das Opfer allein die Anzeige, allein die Ermittlungen für eine Genugtuung hält. Die Frage ist dann immer nach der Güte: Wie wird ein solcher Strafprozess aussehen und was ist mit dem Opferschutz, wenn im Strafprozess aus Beweisschwierigkeiten freigesprochen wird oder eingestellt wird?

von Billerbeck: Sie meinen, dann ist das ein Pyrrhussieg?

Feuerhelm: So ist es.

von Billerbeck: Nun lehren Sie an einer katholischen Fachhochschule – ist es da besonders schwer, gegen die Verlängerung der Verjährungsfristen zu sprechen, weil Sie sich ja dem Verdacht aussetzen können, die katholische Kirche, die derzeit sehr unter Druck steht, nicht noch angreifbarer machen zu wollen?

Feuerhelm: Nein, das sehe ich nicht. Das sehe ich nicht. Also ich denke, wir bilden Sozialarbeiter aus, und dass wir bei dieser Ausbildung auch anstehende aktuelle Themen besprechen, das Thema sexueller Missbrauch gehört quasi zum Lehrplan, und sexueller Missbrauch in Organisationen ist übrigens ein Thema, was jetzt nicht seit den Aktualitäten der letzten Wochen bekannt ist. Und genauso eben bekannt, dass es dafür Mechanismen gibt der Absicherung, also um in einer Organisation diesen Entwicklungen vorzubeugen. Die gibt es, die muss man stärken.

von Billerbeck: Vielleicht können wir darüber gerade sprechen, denn Ihr Schwerpunkt sind ja Kinderschutz, Jugendstrafrecht, Kriminologie, und Sie gehörten 2004 und 2005 auch zum Vorbereitungskomitee der 10. Europäischen Regionalkonferenz gegen Kindesmissbrauch und Vernachlässigung. Sie befassen sich also schon lange mit dem Thema. Was müsste denn Ihrer Meinung nach vor allem geschehen im Interesse und für die Opfer?

Feuerhelm: Also ich denke, eine wichtige Erkenntnis der Diskussion auch der letzten Tage ist, dass dieser sexuelle Missbrauch in den Organisationen entsteht aufgrund von Machtgefälle und Angst, und das sind die Zentralbegriffe. Das heißt, man muss stärken Vertrauenspersonen, an die sich die Kinder und Jugendlichen wenden können – übrigens nicht nur in Fällen sexuellen Missbrauchs. Wir haben an den Schulen Fälle, in denen auch vonseiten von Lehrern gemobbt wird, Bloßstellungen und so weiter.

von Billerbeck: Also psychische Gewalt?

Feuerhelm: Psychische Gewalt, ganz genau. Und ich denke, da muss man Strukturen schaffen, Vertrauensstellungen, an die sich dann Kinder und jugendliche Betroffene wenden können.

von Billerbeck: Was müsste das für eine Person sein? Stellen wir uns das mal vor in einem katholischen Internat, die Person ist ja dort auch angestellt, also unterliegt auch der Weisungsbefugnis der Vorgesetzten dort. Wie wird so was möglich sein?

Feuerhelm: Eben das, denke ich, ist Teil einer Organisationsentwicklung, eine solche Position so auszustatten, dass sie eben in diesen Konflikten zugunsten der Opfer handeln kann.

von Billerbeck: Wie wird das konkret sein?

Feuerhelm: Das ist etwa denkbar, indem man da einen Ombudsmann, eine externe Person nimmt oder indem man klar definiert, welche Position jetzt die interne Vertrauensperson hat. Ob der Vertrauenslehrer, den es ja in den Schulen gibt, dazu reicht, bin ich mir nicht sicher.

von Billerbeck: Über die Debatte um die Verlängerung von Verjährungsfristen für sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche spreche ich mit dem Mainzer Juristen Wolfgang Feuerhelm. Wenn nicht strafrechtlich, Herr Professor Feuerhelm, sollten – wie auch jetzt von der Justizministerin vorgeschlagen – stattdessen auch zivilrechtliche Möglichkeiten für die Opfer ausgeschöpft werden. Was muss da Ihrer Meinung nach geschehen?

Feuerhelm: Nun, also bei den zivilrechtlichen Vorschriften denke ich, dass man über einen Änderungsbedarf schon nachdenken könnte. Also die dreijährige Verjährungsfrist, die wir haben für Schadensersatz und Schmerzensgeldforderungen, mag in der Tat etwas kurz sein. Hier könnte man sich schon vorstellen anzugleichen, wobei ich auch hier ...

von Billerbeck: Anzugleichen woran?

Feuerhelm: Also an eine längere Verjährungsfrist, also die zehnjährige ab dem 18. Geburtstag im Strafrecht. Also das, denke ich, eine Harmonisierung wäre da ganz gut, wobei ich natürlich auch darauf hinweise, dass auch im Zivilprozess im Bestreitensfalle, also wenn der Täter seine Tat nicht zugibt, auch dann ein formeller Beweis angetreten werden muss, mit all den Schwierigkeiten. Eine andere Frage wäre, ob sich nicht Gesellschaft oder Kirche – das kommt dann drauf an – jenseits dessen zu Entschädigungen bereitfinden soll, das wäre ja noch mal eine ganz andere Ebene, die dann eventuell diese Beweisschwierigkeiten umgehen könnte.

von Billerbeck: Bleiben wir mal bei dem Schadensersatz, den Sie erwähnt haben: Wie lässt sich das denn regeln, wenn der Täter wegen der geltenden Verjährungsfrist nicht verurteilt wurde, die Opfer aber möglicherweise lebenslang therapeutische Hilfe brauchen, wer soll denn da für die Therapie zahlen, wenn nicht der Täter, wo man aber keinen Beweis hat?

Feuerhelm: Ja, in der Tat, das ist das Problem. Also die Frage der Therapiekosten, das ist in der Tat etwas, worüber man nachdenken muss. Das ist ja praktisch so im Normalfall der Punkt, in dem ein finanziell darstellbarer Schaden entsteht, und hier ist dann, wenn nach geltendem Recht innerhalb der drei Jahre nicht geklagt wird, wären solche Forderungen nicht mehr durchsetzbar. Mit der Folge, dass dann natürlich erst mal geschaut werden muss, ob für diese Symptome, die Krankheitswert haben in meinem nicht fachlichen Augen, man einen anderen Kostenträger findet, jedenfalls nicht den Täter.

von Billerbeck: Und wer müsste das sein oder wer könnte das sein?

Feuerhelm: Na ja, wir haben ja nun ein Krankenversicherungssystem.

von Billerbeck: Das heißt, die Gemeinschaft zahlt dann für eine Straftat, für die der Täter nicht belangt wird und nicht zahlt?

Feuerhelm: Für die Folgen.

von Billerbeck: Für die Folgen.

Feuerhelm: So ist es.

von Billerbeck: An der Berliner Charité gibt es ja Hilfen für Pädophile, die sogar mittels Plakaten aufgerufen wurden, sich dort zu melden, um Hilfe zu bekommen. Genügen diese anonymen Angebote für Täter?

Feuerhelm: Also das kann ich aus meiner Sicht nicht abschließend beurteilen. Klar ist, dass wir Therapieangebote brauchen, und wir brauchen gute Therapieangebote und wir brauchen gut ausgestattete Therapieangebote. Die Rechtspolitik hat das ja schon versucht, beispielsweise mit den Bemühungen, inhaftierte Sexualstraftäter zu therapieren. Der Weg ist richtig und ohne Alternative, das ist nun egal, ob das verurteilte Sexualstraftäter sind oder Leute, die aus eigenem auch Leidensdruck eine Therapie aufsuchen, das brauchen wir, ist alternativlos.

von Billerbeck: Herr Professor Feuerhelm, Sie befassen sich ja seit Langem mit dem Thema Kinderschutz und auch Strafrecht und Kindesmissbrauch. Wenn Sie die aktuelle Debatte jetzt beurteilen, sind da die richtigen Töne im Vordergrund oder wie erleben Sie die?

Feuerhelm: Also bei dieser Debatte, es ist immer die Gefahr, dass hier vordergründig auf einen publizistischen Erfolg geschaut wird, das halte ich in der Rechtspolitik für eine fatale Geschichte. Ich finde, über die Frage der Verjährungsfrist, zum Beispiel die Angleichung der zivilrechtlichen an die strafrechtlichen, da müsste man sich schon etwas Zeit des Überlegens nehmen, also keine Schnellschüsse. Keine Schnellschüsse, weil sich dann herausstellt, dass das letztlich dem Opferschutz nicht zugutekommt, und das wollen wir nicht.

von Billerbeck: Professor Wolfgang Feuerhelm, Straf- und Sozialrechtler an der Fachhochschule Mainz, herzlichen Dank!

Feuerhelm: Bitte schön!
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