Epische Meisterprüfung

10.04.2012
Dea Loher ist Dramatikerin, doch mit ihrem ersten Roman stellt sie unter Beweis, dass sie ebenso gut erzählen kann. Im Mittelpunkt stehen ein brutales Verbrechen und die Rettung eines seltenen Automobils aus den Tiefen des Lago Maggiore.
In den Stücken Dea Lohers geht es meist um Gewalt und Tod, Schuld und Sühne. Auch im Mittelpunkt ihres ersten Romans steht ein brutales Verbrechen. Beim Tessiner Karneval kommt es zu einer Rempelei unter angetrunkenen jungen Männern. Wenig später wird der Student Luca von drei jungen Bosniern totgetreten. Das alles geschieht so beiläufig wie grundlos. Die szenisch-dialogische Schreibtechnik Lohers macht die fünfzig Seiten, auf denen die Abläufe des Geschehens rekonstruiert werden, zur Tour de force: eine Collage aus lauter Zeugen- und Täteraussagen, die sich widersprechen. Lauter stammelnde Erklärungen des Unerklärlichen.

Vorangestellt ist ein Kapitel in Tagebuchform, das ebenfalls von Leid und Tod handelt: Notizen Rembrandt Bugattis sollen es sein, Bruder des berühmten Autokonstrukteurs. Der Bildhauer präsentiert sich darin als melancholischer Zeitbeobachter. Nach Erfahrungen als Helfer in einem Kriegslazarett verstärkt sich seine Depression; 1916 begeht er Selbstmord.

Der dritte und längste Teil liest sich wie eine eigenständige Novelle und führt zugleich die beiden vorhergehenden Kapitel zusammen. In den Bergen Venezuelas erfährt Jordi von dem Mord an dem Studenten. Er stammt aus Ascona, ist mit der Familie Lucas befreundet. Erst langsam gewinnt sein Projekt Konturen. Jordi hat die väterliche Firma für Unterwasserarbeiten übernommen, und am Grund des Lago Maggiore, so will es ein alter Taucher-Mythos, ruht verborgen im Schlamm ein edler 20er-Jahre-Bugatti.

Was hat ein Autowrack mit einem totgeschlagenen Studenten zu tun? Die dünne äußere Verbindung besteht darin, dass auch Luca Hobbytaucher war und vom Bugatti-Gerücht wusste. Wichtiger ist die symbolische Verknüpfung. Jordi will dem Schrecklichen etwas "Schönes" entgegensetzen, eine "gute" Tat. Eine psychologische Verschiebung findet statt: Der Junge ist nicht mehr zu retten; die Bugatti-Rettung dagegen gestaltet sich so, als ginge es um ein verletzliches Menschenleben.

Mit präziser novellistischer Sachlichkeit wird die Bergung des Oldtimers aus der Tiefe von 52 Metern beschrieben. Bei einem schweren Sturm sinkt Jordis Bergungsschiff und rammt sich in den Seegrund, nur wenige Meter neben dem Bugatti. Teures Equipment ist verloren, doch Jordi arbeitet weiter. Die große Nichtigkeit und das große "Dennoch!" verleihen den Vorgängen eine beinahe metaphysische Aufladung, fast wie in Hemingways "Der alte Mann und das Meer." Hier jedoch hängt am Ende ein zwar rostzerfressenes, aber doch prächtiges Wrack am Haken.

Leitmotivisch verknüpft der Roman die drei Teile. Faszinierend die Spiegelbildlichkeit vieler Szenen, etwa der "zufälligen" Tode und Unfälle. So subtil die Psychologie in diesen Roman einer Rettung hineinwirkt, so subkutan bleibt sie in der Erzählweise. Die spröde Menschendarstellung weicht der Introspektion aus und setzt ganz auf Monolog, Dialog und genaue Beschreibung. Ein Höhepunkt ist die Schilderung des Sturms am See: große Prosa, mit der die Dramatikerin Dea Loher die epische Meisterprüfung ablegt.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Dea Loher: Bugatti taucht auf. Roman
Wallstein Verlag, Göttingen 2012
208 Seiten, 19,90 Euro