Epiker des familiären Durcheinanders

09.09.2010
Eine mitreißende, aufwühlende, beglückende Lektüre: In "Freiheit", dem lang erwarteten neuen Roman nach den "Korrekturen", wird erneut eine amerikanische Mittelschichtsfamilie Opfer von Jonathan Franzens qualenschenkender Erzählliebe.
Wie schreibt man einen Roman? Die Schwierigkeit bestehe darin, meinte Jonathan Franzen in einem Interview, eine Gruppe von Charakteren zu entwickeln, die er genug lieben könne, um sie Qualen auszusetzen, die ohne Liebe einfach grausam wären.

Das ist die Essenz von Franzens Poetik. Tatsächlich steht dieser Autor, der selbst in seinen beiden ersten Romanen noch der artifiziellen postmodernen Ästhetik verpflichtet war, wie kein anderer für eine dezidierte Rückkehr zum figurenzentrierten "realistischen" Roman – mit allen Raffinessen. Anstatt weiterhin trickreiche Erzähllabyrinthe wie ein Thomas Pynchon zu entwerfen und flache Charaktere hindurchzujagen, erweitert Franzen das Innenleben seiner Figuren ins Labyrinthische.

In "Freiheit", dem lang erwarteten neuen Roman nach den "Korrekturen" aus dem Jahr 2001, wird erneut eine amerikanische Mittelschichtsfamilie Opfer von Franzens qualenschenkender Erzählliebe. Patty und Walter Berglund scheinen in ihrer restaurierten Villa in St. Paul, Minnesota, eine vorbildliche Ehe zu führen. Dann aber zieht Sohn Joey ins Nachbarhaus, zu republikanischen Proleten, wie Patty findet. Nicht nur seine Liebe zur unglaublich hingebungsvollen Nachbarstochter Connie ist der Grund. Walter Berglund verstrickt sich bald immer mehr in seinen ökologischen Passionen: Eine Vogelart will er in heikler Kollaboration mit der Kohleindustrie retten und die weitere Vermehrung der Menschheit unterbinden.

Und Patty, die Ex-Sportlerin, versinkt unterdessen in Depressionen und Sehnsüchten, die sich auf Walters Jugendfreund Richard Katz richten, einen vormaligen Punkmusiker, der neuerdings mit Country-Anklängen gewaltigen Erfolg hat. Frau liebt besten Freund ihres Mannes – dieses alte Muster revitalisiert Franzens scharfkantige Dreiecksgeschichte, die im Übrigen mit erstaunlich viel Sex und Drogen aufwartet.

Der "Familienroman" war schon in den "Buddenbrooks" ein Familienzerstörungsroman. Familie ist erst recht bei Franzen kein neobiedermeierliches Idyll, sondern ein Laboratorium emotionaler Komplexität. Hier sind die Menschen vertäut, hier glühen ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, hier erleiden sie ihre Enttäuschungen und Lebenslügen, hier werden die Fehler gemacht, die noch in der nächsten Generation nachwirken, hier laufen langwierige Wiedergutmachungsprojekte, hier durchkreuzen Söhne und Töchter die Lebensaufträge, die ihnen von den Eltern aufgehalst wurden, hier fällt der Apfel möglichst weit vom Stamm.

An den Biografien der Berglunds lässt es sich in fabelhafter Detailgenauigkeit studieren. Joey, der zwischenzeitlich unter die Irak-Kriegsgewinnler gerät, setzt sich mit derselben Entschiedenheit von Patty und Walter ab, mit der diese einst ihren Eltern den Rücken kehrten.

Familiäre Beziehungen sind geprägt von unausweichlichen Ambivalenzen. Hier schichten sich die Gefühle: Liebe und Überdruss, Abhängigkeit und Hass und vieles mehr. Franzen ist der geniale Epiker dieses familiären "Durcheinanders", wie kein anderer Gegenwartsautor knüpft er die Komplexitätsnetze und lässt die Figuren tragikomisch darin zappeln.

Deshalb wird "Freiheit" auch von Kapitel zu Kapitel besser. Je mehr die Gefühle im Widerstreit glühen, je mehr Ambivalenzen von Seite zu Seite ausgebildet werden, je mehr Milieus der Autor mit stupender Sachkenntnis erkundet – desto mehr wird dieser Roman zum staunenerregenden, abgründig humoristischen Meisterwerk. "Freiheit" ist der große amerikanische Roman dieser Jahre, eine mitreißende, aufwühlende, beglückende Lektüre.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Jonathan Franzen: Freiheit
Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010
732 Seiten, 24,95 Euro

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