Entzauberte Geschichte

18.04.2012
Einen weiten Bogen spannt Dirk Husemann: 150.000 Jahre - vom Auftauchen der ersten Neandertaler in Europa bis hin zu einem der wenigen großen indianischen Siege gegen die US-amerikanischen Kavallerie, die Schlacht am Little Bighorn River von 1876. Die verbindende Klammer ist dabei die Archäologie.
Als 1856 in einer Höhle im Neandertal nahe Düsseldorf Arbeiter einen Haufen Knochen ausbuddelten, änderte das die Welt. Denn Johann Carl Fuhlrott, der die Gebeine untersuchte, befand, dass es Überreste von einem Menschen aus vorhistorischer Zeit seien und widersprach damit aller herrschenden Wissenschaft - bis dahin galt die biblische Schöpfungsgeschichte als verbindlich. Husemann referiert mit leichter Hand die Entwicklungsgeschichte des Neandertalers, wie er aussah (er war ein kurzes, kompaktes Kraftpaket) und warum (er lebte in einer Kältephase und je weniger Oberfläche ein Körper hat, desto weniger Wärme gibt er ab), dass er schon Totenkult betrieb, und warum er ausstarb: Er wurde nicht vom Homo sapiens vernichtet, sondern konnte sich nicht an die schnell wechselnden natürlichen Gegebenheiten anpassen.

Husemann erzählt unangestrengt, mitunter witzig, aber prägnant. Moorleichen fehlen dabei genauso wenig wie Schädelstätten im Nördlinger Ries oder Schliemanns Ausgrabungen in Troja. Der Gründungsmythos Roms wird genauso entzaubert wie die Taten General Custers bei der Schlacht gegen die Indianer am Little Bighorn River im Juni 1876. Denn Archäologen konnten den Ablauf der Schlacht rekonstruieren und wiesen Custer schwere strategische Fehler nach.

Weil Husemann so durch die Jahrtausende streift, geraten einige der 18 Texte allerdings etwas zu kurz. Manche der Themen werden nur angerissen, etwa das Schicksal der Gletscherleiche Ötzi. Seine Geschichte wurde in anderen Büchern schon besser und ausführlicher beschrieben. Tiefer gräbt der Autor dann wieder bei den Etruskern, den vorrömischen Bewohnern der Toskana, um deren Herkunft sich allerlei Mythen ranken. Sind es Uritaliener, wie sich anhand von Kunstwerken - Bronzestatuetten von Menschen mit überlangen Gliedmaßen für die es keine Vorläufer gibt - vermuten lässt? Oder stammten sie aus dem griechischen Kleinasien wie es Herodot im 5. Jahrhundert vor Christus behauptete? Dafür spricht, dass sie auch die Kunst des klassischen Griechenlands kopierten. Und was geben die genetischen Befunde her? So wie etwa die zur mittlerweile bestätigten These, wonach Menschen aus Kleinasien und Italien gleiche genetische Wurzeln haben.

In solchen Texten beweist Husemann exemplarisch, dass Archäologie mehr ist als das Ausgraben vor alten Scherben, Steinen und Knochen, sondern eine faszinierende lebendige und spannende Wissenschaft.

Besprochen von Günther Wessel

Dirk Husemann: Tod im Neandertal.
Akte Ötzi. Tatort Troja. Die ungelösten Fälle der Archäologie

Theiss Verlag, Stuttgart 2012
232 Seiten, 16,95 Euro
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