Entgrenzung des Sozialen

Rezensiert von Peter Merseburger · 21.04.2006
Angst essen Seele auf, hieß ein berühmter Fassbinder-Film. Soziales frisst Zukunft auf könnte der Titel des neuesten Buches von Kurt Biedenkopf heißen. Denn der Professor der Volkswirtschaft und langjährige frühere sächsische Ministerpräsident legt drastisch dar, dass unser Sozialstaat zu einer Art wucherndem Krebs, zu einem Moloch entartet ist, der die Freiheit des einzelnen, den Wohlstand der deutschen Gesellschaft und die Zukunft unserer Enkel gefährdet.
Wer Biedenkopfs Plädoyer für die Rückkehr zur Vernunft einigermaßen sorgfältig studiert, wird solche Gedanken nicht weit von sich weisen. Als Hauptgrund für unsere deutsche Malaise bezeichnet er das, was er etwas akademisch die "Entgrenzung des Sozialen" nennt – also die seit Jahrzehnten betriebene Überbürdung des Staates mit sozialen Aufgaben, die von den großen Volksparteien abwechselnd oder, etwa in Zeiten der ersten großen Koalition, auch im Konsens miteinander betrieben worden ist. Was diese Entgrenzung bedeutet, rechnet er mit nüchternen Zahlen aus dem Schicksalsbuch der Nation, dem Haushalt des Bundes vor.

Betrug vor der ersten großen Koalition der Anteil der Leistungen für Rente, Arbeitsmarkt und andere Sozialausgaben trotz erheblicher Kriegsfolgelasten noch 31 Prozent, wuchs er bis 2004 auf immerhin 48 Prozent – also knapp die Hälfte des gesamten Haushalts. Und die Verschuldung des Bundes explodierte geradezu: 1970 betrug die Schuldenlast des Gesamtstaates nicht einmal 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts, im Jahr 2000 erreichte sie genau 60 Prozent oder über 1500 Milliarden Euro – was etwa 18 200 Euro pro Kopf der Bevölkerung entspricht.

Mussten für Zinsen 1965 nur 1,9 Prozent des Haushalts ausgegeben werden, kletterte der Zinsanteil bis 2004 auf fast das Zehnfache – nämlich auf stattliche 14,4 Prozent. Kein Wunder also, wenn nicht genügend Mittel für die wichtigsten Zukunftsausgaben der Wissensgesellschaft vorhanden sind – es fehlt an Milliarden für den Ausbau unserer Schulen und Hochschulen, zur Förderung von Bildung und Forschung oder für Investitionen in neue Techniken.

Wer wird Biedenkopf nicht zustimmen, wenn er schreibt, Deutschland könne sich nicht leisten, vor allem Ansprüche aus der Vergangenheit zu bedienen und darüber die Investitionen für die Zukunft zu vernachlässigen. Und weil er das Gewohnte als Blockade auf dem Weg ins 21. Jahrhundert erkennt, zeigt er sich über den Stil der politischen Diskussion hierzulande zutiefst beunruhigt:

"Man bleibt in vertrauten politischen Gefilden. Man entdeckt immer neue soziale Unausgewogenheiten und erklärt die soziale Gerechtigkeit zum Herzensanliegen. Wo immer derzeit politisch gestritten wird, geht es gerade nicht um die Zukunft der heute Aktiven, ihrer Eltern und um eine mögliche Ausbeutung der Enkel. Es geht um die Fortsetzung des 20. Jahrhunderts. Seine Gesetze, Erfahrungen und liebgewonnenen Wohltaten sollen möglichst lange auch für das 21. Jahrhundert gültig bleiben. Und wieder werden die Kosten für verspätete Anpassungen an die neue Wirklichkeit wachsen – exponentiell zur verlorenen Zeit."

Damit macht Biedenkopf Front gegen die Sozialdemokratisierung der deutschen Mehrheitsmeinung, aber auch gegen die seiner eigenen Partei. Den ersten historischen Sündenfall der Entgrenzung des Sozialen datiert er, der ja unter Helmut Kohl einmal CDU-Generalsekretär gewesen ist, schon auf das Jahr 1956. Damals wurde der Juliusturm, in dem Adenauers erster Finanzminister Schäffer einen erklecklichen Bundesschatz gesammelt hatte, für soziale Wohltaten geplündert – mit Blick auf die kommende Bundestagswahl. Noch Ludwig Erhard habe die Begrenzung des Sozialen gewollt und die Rolle des Staates darauf beschränkt gesehen, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Unter dem Einfluss der CDU-Sozialausschüsse und der katholischen Soziallehre sei es allerdings der CDU nie gelungen, Marktwirtschaft und Sozialpolitik ordnungspolitisch miteinander zu verbinden.

Hatte die erste große Koalition 1966 bis 1969 die Weichen falsch, nämlich in Richtung auf mehr Sozialstaat gestellt, erwartet er von der zweiten, der heutigen großen Koalition, dass sie die Fehlentwicklung korrigiert und die Krise daran hindert, ihr zerstörerisches Werk fortzusetzen. Sie müsse den Bürger an der Suche nach neuen Wegen in die Wirklichkeit beteiligen.

"Die Regierung muß die Menschen fordern, sie dafür gewinnen, mehr Freiheit zu wagen. Sie muß ihnen die Bereitschaft abverlangen, selbst Verantwortung zu übernehmen, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen, sich aus der Rolle des kleinen Mannes zu verabschieden, der die überwiegende Mehrheit längst entwachsen ist."

Das liest sich gut – aber ist die Mehrheit für solch drastische Reformen auch bereit? Biedenkopf zeigt sich hier teils als Pessimist, teils als Realist. Der Pessimist meint, wenn es um das Zurückschneiden des Sozialstaats gehe, sei mit der politischen Bereitschaft der Bevölkerung kaum zu rechnen; zu tiefe Spuren hätten seine Allgegenwart und ständige Expansion im Bewusstsein der Bundesbürger hinterlassen. Der Realist dagegen weiß, dass die Große Koalition erhebliches Vertrauen genießt. Mit einer Regierungsspitze, die das Land nicht nur verwalte, sondern tatsächlich führe, sei deshalb viel zu erreichen.

Der Bürger, heißt das wohl, ist der vagen, immerzu wiederholten Reformbeschwörungen überdrüssig – er will jetzt von der Kanzlerin und ihren Ministern an die Hand genommen werden, will endlich genau wissen, wohin die Reise geht, über Ziel und Ende des Reformwegs Klarheit haben. Biedenkopf macht aber auch auf das begrenzte Zeitfenster aufmerksam, das für das Inkraftsetzen der nötigen Reformen zur Verfügung stehe: Zwischen 20015 und 2020, also in zehn bis 15 Jahren werde die Zeit zu Ende gehen, in der es möglich sei, eine Mehrheit für die Politik der Zukunftssicherung zu finden. Danach werde sich das "window of opportunity" langsam schließen, und was an langfristiger Erneuerung noch entschieden werden müsse, werde dann immer schwerer auf den Weg zu bringen sein.

Hoffentlich liest Frau Merkel auch, welche schwere Verantwortung der CDU-Grande damit auf ihre Schultern legt – wie auf die aller Großkoalitionäre. Mit Reparaturen am System, meint Biedenkopf, sei es nicht mehr getan, er fordert den vollkommenen Systemwechsel bei Rente und Krankenversicherung, der mit den so verschiedenen Konzeptionen der beiden Koalitionspartner allerdings nur schwer durchzusetzen wäre. Wie sein Freund Meinhard Miegel warnt er vor Wachstumsfetischismus, vor allem aber vor politischen Konjunktur- und Wachstumsprogrammen. Nie hätten sie das erhoffte Wachstum gebracht, dafür lediglich zu höherer Staatsverschuldung geführt.

Statt materiellen Wachstums, das in entwickelten Industriegesellschaften notwendig gering bleiben müsse, tritt er für qualitatives Wachstum ein – etwa bei Bildung, Fortbildung und Beschäftigung im Haushalt, der zu einem wichtigen Arbeitgeber werde. Für den Fall allerdings, dass es bis 2020 nicht zu durchgreifenden Reformen kommt, entwirft er ein Bild weiteren Niedergangs: Die Begabten unter den Enkeln würden anderswo hingehen – in Länder, die ihren Arbeits- und Entwicklungsbedürfnissen besser entsprächen, und Deutschland würde europäisch wie global viel an Bedeutung und Einfluss verlieren. "Die Ausbeutung der Enkel" hat er seinen Alarmruf überschrieben. Da bleibt nur zu hoffen, dass er nicht ungehört verhallt.

Man könnte meinen, Christoph Keese, der Chefredakteur der "Welt am Sonntag", setze mit seinem schmalen Büchlein "Verantwortung jetzt" die Argumentation Biedenkopfs nahtlos fort. Denn auch er glaubt, bedrohlicher könne der Zustand unserer Sozialversicherung kaum aussehen; rücksichtsloser könne sich eine Generation, welche die Staatsverschuldung immer weiter in die Höhe treibe, gegen ihre Nachkommen kaum verhalten. Auch er plädiert für mehr Eigeninitiative und mehr Eigenverantwortung.

Doch was bei Biedenkopf als die Summe langjähriger politischer und ökonomischer Erfahrung gelten kann und deshalb ebenso fundiert wie überzeugend wirkt, bleibt bei Keese moralinsauer, hohl tönend und erinnert nicht selten an Spruchweisheiten eines Abreißkalenders. Was der Autor will, macht er im Untertitel überdeutlich, der da lautet: "Wie wir uns und anderen helfen und nebenbei unser Land in Ordnung bringen". Das klingt ein wenig nach Katechismus. Und wie das geschehen soll – dafür gibt es in diesem Lehrbuch der öffentlichen und privaten Tugenden ebenso simple wie banale Rezepte. So einfach ist das: Der verantwortungsbewusste Bürger kennt keine Politikverdrossenheit; also lässt es sich der mündige Bürger durch Fehler, die Politiker und Parteien machen, nicht verdrießen, sondern mischt sich selber ein. Oder:

"Wir sollten, wie Albert Schweitzer unserer inneren Berufung folgen, egal, wie alt wir sind oder was wir schon alles getan haben."

Aber was ist, wenn man seine Berufung nicht kennt? Dann muss man – sagt Keese - eben genauer in sich hineinhören. Wie schön wär’s doch, das Land ließe sich so einfach wieder auf den richtigen Pfad zu bringen. Wir gingen dann in der Tat schnell herrlichen Zeiten entgegen.


Kurt Biedenkopf: Die Ausbeutung der Enkel. Plädoyer für die Rückkehr zur Vernunft
Propyläen-Verlag, Berlin 2006

Christoph Keese: Verantwortung jetzt – Wie wir uns und anderen helfen und nebenbei unser Land in Ordnung bringen
Bertelsmann Verlag, München 2006
Kurt Biedenkopf: Die Ausbeutung der Enkel (Coverausschnitt)
Kurt Biedenkopf: Die Ausbeutung der Enkel (Coverausschnitt)© Propyläen-Verlag
Christoph Keese: Verantwortung jetzt (Coverausschnitt)
Christoph Keese: Verantwortung jetzt (Coverausschnitt)© Bertelsmann Verlag