Englische Schauerromane

Königin der Gothic Novel

Schloss Langeais an der Loire
In düsteren Schlössern wie dem von Langeais in Frankreich spielen einige Schauerromane von Ann Radcliffe. © dpa / picture alliance / Kerth
Von Ruth Fühner · 09.07.2014
Dem Genre des Schauerromans gab die "mächtige Zauberin", wie sie der Kollege Walter Scott nannte, ihre ganz eigene Richtung. Warum Ann Radcliffe trotz ihres Erfolgs früh das Schreiben aufgab, gehört zu den vielen Rätseln ihres Lebens.
"An den freundlichen Ufern der Garonne stand, im Jahr 1584, das Schloss von Monsieur St. Aubert. Aus den Fenstern sah man die idyllischen Landschaften von Guienne und Gascogne sich den Fluss entlang erstrecken, heiter mit ihren üppigen Wäldern und Weinreben, und ihre Olivenpflanzungen. Im Süden begrenzten die majestätischen Pyrenäen den Blick ..."
Manche halten Ann Radcliffes Landschaftsbeschreibungen – wie hier in "The Mysteries of Udolpho" – für ihre größte Stärke. Dabei war sie selbst nie in Frankreich gewesen, oder in Italien, einem anderen bevorzugten Schauplatz ihrer Schauerromane. Aber sie ließ sich von Malern inspirieren, von den lyrischen Landschaften Claude Lorrains oder den dramatisch-mittelalterlichen Kulissen von Salvator Rosa. Unheimliche Schlösser, halb verfallene Klöster und unterirdische Labyrinthe – dorthin verschlägt es Radcliffes jugendliche Heldinnen. Regelmäßig geraten sie auf dem Weg in den sicheren Hafen von Liebe und Ehe in die Fänge böser Feinde und erbeben vor den Schrecken real gewordener Albträume.
Ann Radcliffe, die Königin der Gothic Novel, wurde als Tochter eines Kurzwarenhändlers am 9. Juli 1764 in London geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie bei gesellschaftlich höher gestellten Verwandten – so dürfte sie die Standesunterschiede am eigenen Leib gespürt haben, die in ihren Romanen eine Rolle spielen: Oft kommt die Intrige vor allem in Gang, um eine angebliche Mesalliance zu verhindern.
"Als Julia zu sich kam, fand sie sich in einem kleinen, nie zuvor gesehenen Raum an der Seite ihrer weinenden Zofe. Ihr Elend wurde durch neue Nachrichten noch vertieft. Sie erfuhr, dass Hippolitus leblos von seinen Dienern weggetragen und Ferdinand auf Befehl des Marquis in ein Verlies geworfen worden war, und dass sie selbst eine Gefangene war in einem abgelegenen Raum, von wo man sie am Tag darauf zur Schloss-Kapelle bringen würde, um sie dem Ehrgeiz ihres Vaters und der absurden Liebe des Grafen de Luovo zu opfern."
Ann Radcliffe selbst hatte offenbar Glück in der Liebe – mit 23 heiratete sie den Oxford-Juristen und späteren Zeitungsherausgeber William Radcliffe, den sie ihren "liebsten Verwandten und Freund" nannte. Er ermutigte sie zum Schreiben. Ihre ersten beiden Romane erschienen anonym, mit ihrem dritten, "The Romance of the Forest", machte sie sich einen Namen, und mit "The Mysteries of Udolpho" wurde sie 1794 berühmt – ziemlich schnell auch in Deutschland.
Das Spiel mit der Angstlust
Dem modischen Genre des Schauerromans gab die "mächtige Zauberin", wie sie der Kollege Walter Scott nannte, ihre ganz eigene Richtung. Nicht nur mit ihren stimmungsvollen und detaillierten Landschaftsschilderungen. Mit dem Schrecken geht sie – anders als viele Kollegen – recht sparsam um und überlässt vieles ganz bewusst der Fantasie:
"Der bereitwilligen Vorstellungskraft verschaffen halb ins Dunkel gehüllte Formen ein größeres Vergnügen als die deutlichste Szenerie im Sonnenlicht."
Lange wurde Ann Radcliffe als Vertreterin der Empfindsamkeit gesehen. Dabei müssen alle ihre Heldinnen lernen, ihre Gefühle zu kontrollieren – und am Ende triumphiert immer die Vernunft.
Scheinbar übernatürliche Phänomene finden eine rationale Erklärung; Spuk und Gespenster entpuppen sich als raffinierte Täuschung oder, ganz handfest, als Piraten oder Schmuggler. Ein Spiel mit der Angstlust, in dem sich – sehr von ferne – das Wetterleuchten der Französischen Revolution spiegelt, die Radcliffes englische Zeitgenossen in Furcht und Schrecken versetzte.
Früh, schon mit 32 Jahren und nach nur sechs zu Lebzeiten veröffentlichten Romanen, gab Ann Radcliffe das Schreiben auf – warum, gehört zu den vielen Rätseln ihres zurückgezogenen Leben. Als sie im Jahr 1823 58-jährig starb, hieß es im Nachruf der Edinburgh Review:
"Nie erschien sie in der Öffentlichkeit, mischte sich auch nicht in private Gesellschaft, sie hielt sich abseits, wie der süße Vogel, der seine einsamen Melodien singt, geheimnisvoll und ungesehn."
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