Engländer gesucht

Von Silke Engel · 27.05.2008
In immer mehr Regionen haben sich in Großbritannien die Mehrheitsverhältnisse in den Schulklassen umgedreht. In Gebieten, in denen überwiegend Ausländer oder Migranten leben, greifen klassische Integrationskonzepte nicht mehr. Diese Erfahrung mussten auch Schüler und Lehrer in der einstigen Integrationsmusterstadt Birmingham machen.
Trotzdem gibt es auch dort Schulen, die dem Trend zu Drogen, Gewalt und Resignation trotzen. Eine Grundschule in Handsworth zum Beispiel, ein paar Kilometer nördlich vom Stadtzentrum. Hier lernen mehr als 17 verschiedene Nationen zusammen. Mit Erfolg - auch auf dem Zeugnis.

Erster Schultag. Direktor Chris Smith lässt alle Schüler in der Aula antreten. Ferienerlebnisse werden ausgetauscht.

International geht es an der Grundschule Welfort zu. Ein paar Kilometer nördlich vom Zentrum gelegen.

Versammlungen wie diese sollen Motivation und Zusammengehörigkeitsgefühl stärken. Bei 17 verschiedenen Nationalitäten in einer Klasse – jeden Tag eine neue Herausforderung.

Das kann aber auch von Vorteil sein, weil keine Nationalität dominiert. Diese Vielfalt macht uns stark.

Und ein spontaner Besuch in der Englischklasse gibt ihm Recht.

Andrew Wels unterrichtet seit sieben Jahren in Handsworth. Er bezieht Herkunft sowie besondere Kenntnisse seiner Schüler von Anfang an mit ein. Wer neu in die Klasse kommt, bringt den anderen Wörter aus seiner Muttersprache bei.

Ob unbekannte Dialekte aus Pakistan oder Polen, an der Grundschule in Birmingham ist die ganze Welt vertreten. Das ist oft Thema auch im Unterricht, weil es dabei hilft, die Identität der Schüler zu formen.

Das Individuum wird inmitten der gemischten Gemeinschaft gestärkt. Integration ohne Selbstaufgabe.

Die Kinder gehen unverkrampft mit ihrer Herkunft um.

Sie: "Meine Familie kommt aus Pakistan, aber ich bin hier geboren."
Ich: "Ich bin Britin. Er auch, aber seine Mutter kommt aus Schottland."
Er: "Keine Ahnung, wo ich genau herkomme."
Er: "Wir sind alle britisch, haben nur verschiedene Wurzeln."

Parallel zu den Sprachen lernen die Grundschüler religiöse Besonderheiten, kulturelle Eigenarten – ganz nebenbei. Der neunjährige Nethano hat Wurzeln in Jamaika. Er ist der Dritte aus seiner Familie, der in Welford zur Schule geht.

"Toll, Freunde zu haben. Von überall her. Da merkt man, wie nett die sind, gar nicht böse, nur anders."

Seit den Fünfzigerjahren kommen Zuwanderer vor allem aus Indien, Pakistan und Afrika nach Birmingham. Statistiker rechnen vor, dass hier in wenigen Jahren erstmals weiße Engländer eine Minderheit stellen. Schon jetzt wächst die Angst vor rassistisch motivierten Unruhen wie zuletzt vor drei Jahren und davor in den 80gern. Bei zehn Prozent Arbeitslosigkeit gilt die zweitgrößte britische Stadt nach London als Hochburg für Jugendkriminalität, Bandenkriege, Drogengeschäfte. Eine Realität, mit der sich die Grundschule in Handsworth täglich auseinandersetzt. Die Hälfte aller Schüler bekommt das Mittagessen umsonst, weil die Eltern die Mahlzeiten nicht bezahlen können.

Nethano stochert in seinem Essen. Sein bester Freund ist noch nicht aus den Ferien zurück. Da macht er sich Sorgen. Weil er in den Irak gefahren ist, zum ersten Mal seit dem Krieg seine Familie dort besucht hat.

Auch die anschließende Pause auf dem Schulhof heitert Nethano nicht auf.

"Weil es so gefährlich da ist. Ich habe geträumt, dass er nicht wieder kommt. Oder vielleicht verletzt wird."

Die beiden Neunjährigen sind unzertrennlich. Sie spielen zusammen Fußball oder toben durch die Korridore. Heute aber muss Direktor Nethano auf später vertrösten. Darin hat Chris Smith Übung. Seit fast 18 Jahren leitet er die Grundschule in Birmingham. Doch zum Alltag gehören auch Standpauken, wenn es auf dem Schulhof mal wieder zu einer Schlägerei kommt.

"Warum habe ich Euch in mein Büro gerufen?
Du darfst erst antworten, wenn ich Dich frage.
Ich mag solche Kämpfe gar nicht. Ihr solltet Hausaufgaben machen und keine Schlägerei anzetteln.

Jetzt beruhigt Euch und dann geht zurück in den Unterricht."

Ein blaues Auge – das sichtbare Ergebnis des Streits. Aber der Anlass? Den sucht der Direktor noch. Erst am nächsten Tag erfährt er, dass es einen zweiten Verletzten gibt: Nethano. Er wurde mehrfach in den Bauch getreten, so dass er sich übergeben musste. Seine Mutter hat ihn früher als üblich von der Schule abgeholt:

"Erst dachte ich, dass er krank wird. Aber vor dem Schultor brach er plötzlich in Tränen aus und erzählte, wie er geschlagen wurde. Weil er eine dunklere Hautfarbe hat. Wer der Schwarze in der Familie ist, wollte der andere Junge wissen. Rassistisch und bösartig. Unsere drei Söhne mussten das nun durchmachen."

Schulleiter Smith hat sich inzwischen umgehört: Nethano wurde attackiert. So fing der Kampf an. Ältere Junges beschimpften den Drittklässler, der zu einem Drittel aus Jamaika kommt - als dreckigen Mischling. Sein irakischer Freund griff ein und kassierte ein blaues Auge. Anschließend knöpften sich die anderen Nethano vor. Nachlese mit den beiden Opfern am Tag drauf im Büro des Direktors:

"An Dich Nethano: Du musst mir sagen, wenn Dich jemand beleidigt oder schlägt. Sonst kann ich nichts unternehmen. Ich wusste von dem ganzen Streit nichts.
Hattet ihr schon mal diesen Ärger? Auch in dieser Woche?
Ich verurteile solche Sprüche, das ist überhaupt nicht cool, das muss aufhören.
Und wie geht es Euch jetzt? Seid ihr trotzdem noch beste Freunde? Sicher? Dann gebt Euch die Hand und ab in die Klasse."

Dieser Alltags – Rassismus kommt vor, erklärt Schulleiter Smith. Auch wenn die Jungs oft nur mit ihren Sprüchen angeben wollen.

"Traurigerweise hat er sich bei manchen Familien eingegraben. Aber hier wird so etwas niemals toleriert."

Dabei ist das, was drinnen in den Klassenzimmern passiert, noch harmlos im Vergleich zu der harten Gangsterwelt draußen vor dem Schultor. Chris Smith nimmt kein Blatt vor den Mund, sondern spricht offen an, wenn es wieder Drogenkonflikte in Handsworth gibt oder eine Schießerei vor dem Klassenzimmer.

"Keine 24 Stunden ist das her. Eine Schießerei knapp hundert Meter vom Schultor entfernt. Leider kommen solche Vorfälle häufig vor. Darum denke ich, ist es wichtig, mit den Schülern ehrlich umzugehen. Sie über Drogen und Bandenkriege aufzuklären. Um sie vorzubereiten."

Aber auch Bürgerrechte und Pflichten lernen die Grundschüler in Birmingham spielerisch. Zum Beispiel beim Wettbewerb, wer rhetorisch die beste Rede hält. Einziges Kriterium bei der anschließenden Wahl zum Teamleiter. Chris Smith erklärt die Regeln:

"Hier hinein kommen die Stimmzettel, aber entscheidet Euch aufgrund der besseren Argumente und nicht weil ihr mit den Bewerbern befreundet sein oder in einer Straße wohnt."

Alex ist die erste Kandidatin. Sie kommt aus der Hausmeisterfamilie, die sich seit Generationen um die Grundschule in Handsworth kümmert. Sie wohnt quasi auf dem Schulhof. Ihre Mutter ging hier zur Schule, ihr Onkel. Sie ist die eine von zwei weißen Schülerinnen in Welford und hat eine kleine Rede vorbereitet:

"Ich arbeite hart und setze mich gerne für andere ein. Außerdem liebe ich Musik und möchte mich für Euch engagieren."

Vor Aufregung rattert Alex ihren Text beinahe unverständlich herunter. Konkurrent Sosa dagegen präsentiert sich mit einem selbst geschriebenen Gedicht:

"Ein Schwimmbad für die Schule – klar, dass alle jubeln."

Doch dann wird es ein wenig Bodenständiger – im Rap – Sprechgesang: Hilfe bietet der Elfjährige allen an – auf dem Pausenhof, in den AGs - egal in welcher Klassenstufe oder Altersgruppe.

Dass Sosa mit dem kleinen Rap – Gedicht kandidiert, kommt nicht von ungefähr. Wie alle in seiner Familie hat er Musik im Blut:

"Tanzen ist ein Teil von mir. Wie machen das seit wir klein sind, meine Brüder auch. Das ist wie eine zweite Familie und ein anderer Freundeskreis neben der Schule."

Sosa tritt regelmäßig mit der Tanzgruppe auf, beim Stadt- oder Kunstfestival in Birmingham. Musik als Brücke, um verschiedene Kulturen zusammen zu bringen, findet seine Mutter. Als Jugendbetreuerin weiß sie genau, warum die Integration oftmals hakt:

"Wir müssen britische Kultur feiern, ohne dass andere dadurch verletzt werden. Weil an frühere Machtverhältnisse erinnert wird oder andere Bräuche, Sitten beleidigt werden. In Birmingham fangen wir zwar damit an. Aber insgesamt liegt da in Großbritannien noch ein langer Weg vor uns."

Mit Tanz Gegensätze zu überwinden oder als beste Freunde Kulturkreise zu erweitern. Das hat Nethano vor. Zum ersten Mal besucht er seinen irakischen Freund zuhause:

"Meine Mutter ist einverstanden, seine auch. Er war schon paar Mal bei mir, aber ich noch nie bei ihm."

Kaum angekommen, toben die beiden Drittklässler durchs Haus. Ungezwungen. Ohne Vorbehalte oder Barrieren. Später essen alle zusammen Abendbrot. Seit fast vier Jahren lebt die irakische Familie in Birmingham. Die Mutter freut sich, dass ihr Sohn sich so schnell eingelebt hat:

"Ich bin glücklich. Mein Sohn fühlt sich wohl - in der Schule, mit den Lehrern und mit Nethano. Ein richtiger Freund, mit dem er sich hervorragend versteht. Wir mögen ihn."

Am nächsten Tag wird in der Welford Grundschule gefeiert: Die Wahl der Teamleiter sowie herausragende Leistungen. Trotz der multikulturellen Schülerschaft, von denen 70 Prozent Englisch erst als zweite Sprache lernen, sind die Resultate überdurchschnittlich gut.

Doch zunächst werden die Wahlergebnisse bekannt gegeben:

Alex von der Hausmeisterfamilie der Schule hat es leider nicht geschafft. Aber Sosa darf die kleine Vereidigungsformel nachsprechen:

"Wir geloben, im besten Sinne für die Schule einzustehen. Immer und bei jeder Gelegenheit."

Für den Direktor sind diese so genannten Vereidigungen immer ein Höhepunkt, weil der Teamgeist hier besonders stark ist.

Ebenso wie bei den Auszeichnungen für gute Noten. Da kommen sogar die Eltern der Schüler, freiwillig und oft besonders stolz:

Bei der Gelegenheit trägt Chris Smith aus dem goldenen Buch der Schule vor. Das wird jedes Halbjahr um mehrere Seiten dicker wird. Dieses Mal haben sich insgesamt 36 Schüler besonders hervorgetan.

Auch Nethano bekommt eine Urkunde als Bester in seiner Französisch–Klasse. Der Direktor schließt mit einem Appell.

"Ich bin stolz auf Eure Leistungen. Dafür einen großen Applaus."

Nethano hält stolz seinen goldenen Stern nach oben. Er hat Spaß an Sprachen, sagt er verlegen:

Zufrieden blickt auch Schulleiter Smith auf das Gewusel in der Aula. In Momenten wie diesen weiß er, warum er seinen Job so gerne macht und wofür er arbeitet:

"Besonders für mich wie ein Stück Lebenswerk. Immerhin wachsen hier die Staatsbürger der Zukunft heran. Und dabei sollte keiner den Kopf in den Sand stecken. Auch wenn es mal schwierig ist; Kraft kostet. Im Gegenteil: eine unglaubliche Freude, den Kindern beim Lernen zu helfen."