Endzeitstimmung unter Schuttbergen

Von Dina Netz · 29.10.2010
Die Schauspieler tragen Narrenkäppis und Masken, aber froh ums Herz will's einem nicht werden – zu groß sind die beim Kölner Archiveinsturz entstandenen Schäden, als dass Elfriede Jelinek und Karin Beier mit ihrem bissigen Karneval die miese Stimmung vertreiben könnten.
Thomas Loibl tritt im schwarzen Anzug an die Rampe, wie ein Conférencier. Ein Conférencier seiner selbst, wie sich herausstellt, denn er beginnt einen 15-minütigen Monolog über "sein" Kraftwerk. Loibl gibt einen Ingenieur, der beim Bau des Speicherkraftwerks im österreichischen Kaprun beteiligt war – das Thema von Elfriede Jelineks "Das Werk". Dieser Einstieg zeigt, wie ehrfurchtsvoll und zugleich klug Regisseurin Karin Beier mit den Texten der Literaturnobelpreisträgerin umgeht. Sie lässt den Zuschauern zunächst Zeit, sich einzuhören in die dialogfreien Kaskaden aus Wortspielen und Anspielungen.

Auch in der zweiten Szene wird behutsam gesprochen: Der Vorhang hat sich geöffnet und eine Art Labor enthüllt, viele Ingenieure berechnen an Tischen, wie sie den Alpen drei Stauseen und eins der größten Kraftwerke der Welt abtrotzen können. Alle Schauspieler dürfen reihum ein paar Sätze sagen – Sätze, in denen Jelinek den Zynismus der Bauherren anprangert, die in den 1940er-Jahren "Fremdarbeiter" beim Kraftwerksbau einsetzten (im Klartext: Zwangsarbeiter). Offiziell starben circa 160 Menschen an Hunger, Kälte, unter Lawinen. Jelinek legt nahe, dass es wohl eher 6000 waren, und ihr Text soll an diese von der Geschichte Vergessenen erinnern.

In der eindrücklichsten Szene kommen diese selbst auf die Bühne repräsentiert, repräsentiert vom Kölner Männerchor "Zauberflöten e.V.", der zischt und gurgelt und keucht und Textpassagen zu Schuld und Verdrängung hervorstößt, wie es wohl auch Einar Schleef beeindruckt hätte. Auf diesen dramaturgischen Höhepunkt folgt zwingend Leere, in der Tote herumliegen und Verlorene herumirren.

"Das Werk" ist zu Ende, aber der Abend geht weiter, denn Kölns Schauspielintendantin Karin Beier hatte gleich mehrere geniale Ideen: Sie fand "Im Bus", einen kurzen Text, den Elfriede Jelinek für den schwerkranken Christoph Schlingensief schrieb. Darin geht es um einen Unfall in München 1994, bei dem ein Bus in eine U-Bahn-Baustelle einbrach, drei Menschen starben. Und als in Köln ganz Ähnliches passierte, nämlich im März 2009 das Kölner Stadtarchiv einstürzte, zwei Menschen und das Gedächtnis der Stadt mit sich riss, fragte Beier Jelinek, ob sie für Köln einen Epilog zu "Das Werk" schreiben könne. "Ein Sturz" heißt das Ergebnis, in dem u.a. der Satz vorkommt: "Unser Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden und im Wasser" - mit allen drei Texten prangert Elfriede Jelinek die menschliche Hybris an, die Anmaßung, der Natur trotzen zu wollen und dabei auch noch über Leichen zu gehen.

"Im Bus" ist nur eine Miniatur, die Karin Beier als kleine Einlage einer Karnevals-Combo vor der Pause inszeniert. Auch "Ein Sturz" ist nicht ganz so schwergewichtig (und wird von Kölns Intendantin auch nicht so genommen) wie "Das Werk": Jelinek selbst hat den Text als Satyrspiel bezeichnet, also als komischen Epilog zur Tragödie.

Die Bühne zeigt weiter Endzeitstimmung unter noch größeren Schuttbergen. Darin laufen Geschäftsleute herum und Kathrin Wehlisch als Erde, schlammig und verloren wie ein Fabelwesen. Niemand spricht direkt, schon gar nicht miteinander, die Stimmen kommen aus Radio, Telefon oder dem Off – so wie ja auch in Köln vor und nach der Stadtarchiv-Katastrophe niemand Klartext geredet hat, sondern alle mediengerechte Sprechblasen von sich gaben und geben. Die Unternehmer führen sich wie Götter auf: "Wir bekommen die U-Bahn, wie wir alles bekommen." Doch zunächst bekommen sie eine wilde Kopulationsszene zwischen Erde und Wasser, in deren Folge noch mehr Erde von der Decke rieselt und noch mehr Wasser aus dem Boden auf die Bühne quillt. Die Akten, die man vorher hektisch weggeworfen hat, zieht man nun nass wieder aus dem Loch.

Die Schauspieler tragen Narrenkäppis und Masken, aber so richtig froh ums Herz will's einem als Kölner nicht werden – zu groß sind die durch den Archiveinsturz entstandenen Schäden, als dass Jelinek/Beier mit ihrem bissigen Karneval die miese Stimmung vertreiben könnten. Es steht ja auch schließlich immer noch nicht fest, ob die Kölner Verkehrsbetriebe für den Archiveinsturz haften müssen. "Mach dir keine Sorgen, die Stadt zahlt", lässt Jelinek einen Unternehmer beruhigend sagen. Danke, Frau Jelinek, für dieses beschämende Textgeschenk an das geschundene Köln!

Informationen zum Stück auf der Homepage des Schauspiels Köln