Endlich getrennt!

Meine 40 Jahre mit dem Automobil

29:48 Minuten
Günther Wessel mit seinem Renault 1977. Ein Pärchen schaut aus dem Dachfenster eines gelben Renaults.
Günther Wessel in einem Renault 1977. Wenig später kam das erste eigene Auto. © Günther Wessel
Von Günther Wessel · 17.11.2020
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Im Sommer 1979 kaufte sich der 19-jährige Günther Wessel sein erstes Auto. Im Sommer 2018 verschenkte er sein letztes. Dazwischen liegen 40 Jahre, in denen Autos erst Freiheit bedeuteten und heute für viele nur noch ein Ärgernis sind.
"Die Körperenergie eines Autofahrers ist weniger als die Hälfte eines langsamen Fußgängers. Aber was bekommt man dafür? Man bekommt Riesenkraft, das 1000-fache an Kraft, man bekommt einen reservierten, von alle respektierten Raum und man bekommt Geschwindigkeiten, die für einen Fußgänger unerreichbar sind", sagt Herman Knoflacher, Verkehrswissenschaftler aus Wien.
Im Frühsommer 1979 kaufte ich mein erstes Auto, im Sommer 2018 habe ich mein letztes verschenkt. Ich komme aus einer Autofamilie. Mein Vater war Ingenieur, aber keiner, der sich für Motoren begeisterte. Eher für Brücken und Straßen, für Kanäle. Für Tiefbau. Unser erstes Familienauto ein VW Käfer. 30 PS. Mitte der 1960er-Jahre. Mit den typischen seitlichen Aufstellfenstern, die geöffnet wurden, wenn er hinter dem Steuer rauchte.
Knoflacher: "Hier entsteht nun ein Kurzschluss im Hirn: In den tiefsten Schichten, und da sitzt das Auto drinnen, meldet das Auto: Pass auf, du bist energetisch großartig, du brauchst die Hälfte der Körperenergie, du kommst nicht einmal über die Reizschwelle eines normalen Aufstehens."
"Ich bin unabhängig, ich bin zeitlich flexibel. Ich habe Kontrolle darüber, wann ich wohin fahren möchte. Bin also von äußeren Bedingungen weitestgehend unabhängig. Ich habe meinen kleinen Kokon, in dem ich meine Privatsphäre habe, ungestört von anderen olfaktorischen auditiven Reizen; ich kann meine Umwelt mir selbst gestalten. Das sind viele Vorteile", sagt Jens Schade, Verkehrspsychologe an der Technischen Universität in Dresden.
Mein Vater fuhr damit ins Büro, kam mittags nach Hause, fuhr nachmittags wieder hin, kam abends nach Hause. Je Strecke knapp drei Kilometer. Das Auto war für ihn alternativlos. Und ist es heute noch:
Wilhelm Wessel: "Das Auto ist für mich Freiheit."
Ein Foto Mitte der 60er-Jahre zeigt meine beiden Schwestern und mich in der Garage unseres Einfamilienhauses auf einem Brett sitzend. Die beiden Mädchen halten jede eine Art Lenkrad in den Händen. Ich sitze in der Mitte mit einem Heft, einem improvisierten Straßenatlas. Wenn ich schon nicht lenken darf, so weiß ich immerhin, wo es langgeht.


Schade: "Das sind natürlich Vorbilder. Lernen durch Beobachtung. Das ist ein Grundprinzip, dass Kinder sich natürlich an ihren Eltern orientieren. Und da zeigt die Forschung auch, dass es da Zusammenhänge gibt. Bis zum Fahrverhalten. Wie der Vater, so fährt der Sohn."
VW-Käfer. Spitzengeschwindigkeit knapp 100 Kilometer pro Stunde. Als ich ungefähr sechs Jahre alt bin, fahren wir mit diesem Käfer Richtung Süden. Die Autobahn 3 hinter Frankfurt. Irgendwann schießt auf der linken Spur ein cremefarbener Porsche an uns vorbei. 911, 130 PS, Spitzengeschwindigkeit 210 Kilometer pro Stunde wie ich aus dem Autoquartett weiß. Eine halbe Stunde später stehen wir im Stau. Ein Unfall. Zwei Polizeiwagen, ein Abschleppwagen, auf den ein Trümmerhaufen aufgeladen wird. Die Reste des cremefarbenen Porsches.
Schade: "Die beginnende Motorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg war im Grunde auch immer ein Versprechen nach Wohlstand. Und da hat im Grunde so eine Art Demokratisierung eines Luxusgutes stattgefunden."
Günther Wessel (M) als Kind. Drei Kinder sitzen in einer Garage und spielen Autofahren.
Günther Wessel (M) in den 60er-Jahren mit seinen Schwestern in der elterlichen Garage. © Günther Wessel

Der Käfer verschwindet, ein Ford kommt

1968 wird das Auto größer. Der Käfer verschwindet, stattdessen kommt ein Ford ins Haus. Taunus 17 M. Das M steht für Meisterstück. Ob er eines ist, weiß ich nicht, nur dass seither immer wieder neue Fords ins Haus kommen.
Etwa alle vier Jahr wiederholt sich ein Ritual: Meine Eltern sitzen am Wochenende im Wohnzimmer, um sie herum Kataloge von Ford. Farben, Sitzpolster – soll das Dach anders lackiert sein als der Rest des Wagens, metallic oder einfach, braucht man ein Autoradio? Dann wird das neue Auto bestellt – und das alte beim Händler in Zahlung gegeben. Zwei Monate später steht es dann in der Regel vor der Tür. Auf den 17 M folgt ein Ford Consul, dann später ein Ford Granada.
Schade: "Lange Zeit ist das Auto das Gut gewesen, worüber man sozusagen den Wohlstand mitgeteilt hat. Ganz klar. Das Auto musste auch immer größer werden, das durfte nicht kleiner werden."

Mitte der 1960er-Jahre entsteht der Spaghettiknoten Duisburg-Kaiserberg, wo sich die Autobahnen 3 und 40 miteinander kreuzen, verwirrend unübersichtlich. Das Versprechen einer autogerechten Zukunft, genau wie die Autoschalter in den Bankfilialen. Mein Vater fährt vor, legt einen Scheck in eine Schublade, in die dann der Bankangestellte das Geld gibt. Praktisch sei das, man müsse keinen Parkplatz suchen, nicht aussteigen.
"Warum fahren denn so viele Menschen Autos? Weil eben schon seit tatsächlich den 20er-Jahren, 30er-Jahren die Idee für eine moderne zukunftsfähige Stadt eben diese Trennung der verschiedenen Bereiche vorsah: Wohnen, Arbeiten, Leben sollten möglichst räumlich voneinander getrennt sein", sagt Andreas Knie, Sozialwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin.
Blick von oben auf das Kreuz Kaiserberg der A3 und A40 in Duisburg, auch "Spaghettiknoten" genannt.
Das Kreuz Kaiserberg der A3 und A40 in Duisburg, auch "Spaghettiknoten" genannt.© picture alliance/dpa/Rolf Vennenbernd

Was im Weg steht, kommt weg

Zur selben Zeit werden auch zwei Fußgängerunterführungen in meiner Heimatstadt gebaut. Zentral in der Innenstadt. Von der Vorstadt ins Parkhaus, dann durch die Unterführung direkt ins Kaufhaus. Das scheint der Fortschritt zu sein; inzwischen sind beide Unterführungen nach langem Niedergang – von der Zukunftsvision zum Obdachlosentreff und Drogenumschlagplatz – mit Bauzäunen versperrt.
Am 27. April 1974 lässt die Stadt den schönsten ihrer drei erhaltenen Wassertürme aus dem 19. Jahrhundert sprengen. Er steht der modernen Stadt im Wege.
Wessel: "Der Wasserturm wurde abgerissen, weil er im Weg war. Das war doch so ein Klotz, den brauchte man nicht mehr."
Mein Vater, Wilhelm Wessel, war damals Leiter des Krefelder Tiefbauamtes und unter anderem für den städtischen Straßenbau verantwortlich. Der Wasserturm weicht einer Schnellstraße. Die führt zur 1972 eröffneten Autobahn 57 und verbindet diese auch mit dem nahe gelegenen Deutschen Edelstahlwerk.
"Den Anschluss von Edelstahl, den musste man haben. Das war doch der größte Arbeitgeber hier. Und da musste man für sorgen. Das war selbstverständlich."
Heute erstreckt sich hier ein riesiger Straßenknoten, den täglich mehr als 50.000 Autos befahren. In einer Stadt von 220.000 Einwohnern.
Gab es 1950 in Deutschland 518.000 private Pkw, stieg deren Zahl bis 1960 auf knapp 4,5 Millionen. Bis weit in die 1950er-Jahre dominierte das Fahrrad den städtischen Verkehr. Das änderte sich innerhalb der nächsten 15 Jahre. 1965 gab es bereits mehr als neun Millionen private Autos, 1970 schon über 13 Millionen. Heute benutzen die knapp 83 Millionen Deutsche mehr als 46,5 Millionen Autos.
Knoflacher: "Das Auto beherrscht uns. Gar keine Frage. Deshalb sieht die Welt ja draußen so aus."

Zerstörte Wohnviertel und Verkehrsschneisen

Vielleicht fiel mir damals erstmalig, wenn auch nur unbewusst, auf, dass Autofahren und der Traum von der autogerechten Stadt auch Nachteile mit sich bringt. Zerstörte Wohnviertel, Verkehrsschneisen, uniforme Reihenhaussiedlungen in der Vorstadt, gefördert durch Pendlerpauschalen und Eigenheimzulagen.
Knie: "Die Raumerschließung, die Beweglichkeit der Gesellschaft war dringend erwünscht. Die Menschen wollten das, sie wollten sich auch privat organisieren, sie wollten ihr eigenes Häuschen haben mit einem eigenen Gärtchen."
Busanschlüsse? Fehlanzeige oder nur einmal pro Stunde. Zwei große Supermärkte mit größeren Parkplätzen. Was praktisch war: hinfahren, alles einladen, fertig. Erst schließt der kleine Lebensmittelladen, dann das Käsegeschäft, zuletzt der Metzger.
Ende der 1970er-Jahre wird auch die Blumentalstraße ausgebaut. Die ist bis dahin ein Schotterweg, löchrig, und im Winter voller Pfützen – Teil meines täglichen Schulweges. Nun wird sie vierspurig – immerhin mit rot gepflasterten Radspuren an der Seite. Mein Vater ist für Bau und Planung verantwortlich.
W. Wessel: "Die Inrather Straße war viel zu schmal. Da konnte man nicht mehr fahren. Und die Blumentalstraße war dafür eine Entlastung. Das war eben praktisch. Da waren wir mächtig stolz drauf, dass wir so eine schöne Straße im Bogen gebaut haben. Mit Blumen, mit Bäumen, das weiß ich noch."
Heute staut sich auf beiden Straßen der Verkehr. Und für Fußgänger ist die schöne Straße auf einem kilometerlangen Stück nur an zwei Ampeln und über eine elegant geschwungene, aber sehr steile Fußgängerbrücke zu überqueren. An anderen Stellen versperrt ein Metallzaun den Weg. Deshalb fuhren seit dem Bau meine Eltern die knappen 500 Meter zu ihrer Kirche nun sonntags mit dem Auto – der ehemals bequeme Spazierweg durch Gärten ist versperrt.
"Motorisierung bedeutet mehr Freiheit für den Menschen," schrieb die Deutsche Straßenliga – Vereinigung zur Förderung des Straßenwesens 1958. "Kein Zufall, dass es in der östlichen Welt schlechte Straßen und wenig Pkws gibt."

13.009 Kilometer Autobahn allein in Deutschland

Straßenbau wurde so fast schon zur patriotischen Aufgabe. Das Ziel: Keine Stadt sollte weiter als 15 Kilometer von der nächsten Autobahnauffahrt entfernt sein. Deshalb umfasst das deutsche Autobahnnetz heute 13.009 Kilometer, was knapp der Strecke von Lissabon nach Wladiwostok entspricht.
Und ich? Ich fuhr die meiste Zeit Fahrrad. Es passt, die Entfernungen sind ja nicht groß: 2,7 Kilometer in die Schule, 1,5 zum Sportverein, drei zum Bahnhof. Zu weit entfernten Freunden sind es vielleicht fünf Kilometer, keine Alltagsstrecke ist länger als acht.
Radtouren. Oft in die Niederlande – anderthalb Stunden bis Venlo. Ich fahre mit meiner Freundin in den Ferien an der Maas entlang, und wir wundern uns über die holländischen Fahrradwege, die ein eigenes Netz bilden. Es ist schön, weit abseits vom Autoverkehr zu pedalieren. Wir empfinden es als merkwürdige niederländische Folklore – wie das weiche Brot, die Automaten, aus denen man Sandwiches ziehen kann, oder die Angewohnheit beim Bierzapfen den Schaum oben am Glas abzustreichen.
"Wir haben in Deutschland elf Prozent Radverkehrsanteil. Das heißt, jede zehnte Strecke wird mit dem Rad zurückgelegt. In den Niederlanden ist es dreimal so viel. Sind es 30 Prozent Radverkehrsanteil", sagt Stephanie Krone, Pressesprecherin des Allgemeinen Fahrrad Club Deutschlands.
"Weil die Niederlande quasi parallel zum Autoverkehrssystem ein komplettes Radverkehrssystem aufgebaut haben mit durchgängigen Radverkehrsnetzen. Seit den 70ern arbeiten die da dran und haben jetzt eine Situation, dass man quasi aus jedem Haus rauskommt und die Straße fordert einen quasi dazu auf, mit dem Rad zu fahren."

Der Führerschein – Synonym fürs Erwachsenwerden

Mit 18 Jahren mache ich den Führerschein. Das gehört dazu. Und das Leben ändert sich.
Mein Vater ist großzügig. Wenn ich sein Auto nutzen möchte, bekomme ich die Schlüssel. Der Vorteil: Ich trinke über Jahre hinweg keinen Alkohol. Der Nachteil: Ich fahre bald auch die kürzeste Strecke mit dem Auto – einen knappen Kilometer bis zu einem Freund, anderthalb zum Sportverein.
Krone: "Wir haben ja im Moment die Situation in Deutschland, dass geradezu irrsinnig viel kurze Strecken in den Städten mit den Autos zurückgelegt werden, 40 Millionen Fahrten am Tag unter zwei Kilometern, jeden Tag."
Das Auto bedeutet Freiheit, obwohl ich dieselbe Freiheit auch mit dem Fahrrad genießen kann. Aber irgendetwas fühlt sich anders an: Führerschein und Autofahren sind das Synonym fürs Erwachsenwerden.
Schade: "Letztendlich ist das Ablösen eines Kindes vom Elternhaus im Grunde symbolhaft über das Auto am besten zu erreichen. Weil wir im Unterschied zu früher gar keine klassischen Initiationsriten mehr in unserer Gesellschaft haben. Wie kann ich eigentlich dokumentieren, dass ich ein Erwachsener bin? Das war mal vielleicht das Rauchen, wählen ist etwas, was nicht sichtbar ist, und dieses Auto ist dann sozusagen: Jetzt bin ich selbstständig, jetzt bin ich unabhängig, jetzt bin ich auch separiert von meinen Eltern."
Mein erstes eigenes Auto kaufe ich dann 1979. Einen gebrauchten VW-Käfer. Baujahr 1970. Kansasbeige – so ein Farbton, den weißer Kunststoff annimmt, wenn er im Laufe der Jahre zu viel UV-Strahlung abbekommt.
Schade: "Viele schaffen sich das Auto an gar nicht mal so sehr, weil sie es unbedingt müssen. Von daher ist da am Anfang noch eine große Wahlfreiheit. Aber wenn man dann das Auto hat, und dann plötzlich: Oh ich kann ja dahin fahren, das ermöglicht mir dann Aktivitäten, die ich ohne ein Auto gar nicht hätte machen können, ja. Und letztendlich integriere ich das dann in meinen Alltag, ich strukturiere dann auch meinen Alltag stärker um das Auto und die Möglichkeit. Und irgendwann, wenn man mir dann das Auto wegnehmen würde, dann hätte ich echt ein Problem. Ohne das Auto geht es dann gar nicht mehr."


Ich fahre mit dem Auto nach Schweden, andere Freunde reisen nach Portugal, Griechenland oder bis in die Türkei – auf dem legendären Autoput, der von Österreich über das heutige Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien nach Griechenland führt. Der Name ist Programm: Autoput bedeutet zwar lediglich Autobahn auf Serbisch; Legion sind aber die Berichte über liegengebliebene oder zu Schrott gefahrene Autos entlang der Strecke. Wer unfallfrei durchkommt, wird hoch angesehen. Er hat es geschafft. Es ist der Versuch, Roadmovies zu leben, der Traum vom romantischen Vagabundieren in Käfer, Ente, R4 oder VW Bus. Während der Fahrt zu sich selbst finden. Das Leben als (Auto)reise.
"Nothing behind me, everything ahead of me, as is ever so on the road", schreibt Jack Kerouac in seinem Roman "On the Road".
Knie: "Wir haben jetzt immer mehr Ecken in Deutschland, wo es dann einfach nicht mehr vorwärts geht. Im Ruhrgebiet, in München, in Hamburg haben wir jetzt riesige Staus, die schon täglich jetzt entstehen."
Andreas Knies Aussage wird von Statistiken gestützt: 2018 gab es in Deutschland rund 745.000 Staus mit einer Gesamtlänge von rund 1,5 Millionen Kilometern – was einen Tagesdurchschnitt von knapp 4200 Kilometern ausmacht. Insgesamt standen Autofahrer rund 459.000 Stunden (mehr als 50 Jahre!) im Stau. Auf 60 bis 100 Milliarden Euro im Jahr beziffern Wirtschaftswissenschaftler die Kosten dieses ruhenden Verkehrs.
Günther Wessels Käfer 1979. Ein beschfarbender Käfer steht vor einem Haus in einer Einfahrt.
Günther Wessels Käfer in "Kansasbeige" 1979.© Günther Wessel

In den USA werde ich zum Automenschen

Ich ziehe zum Studium nach Aachen, benutze meinen Käfer für Fahrten nach Belgien und Holland oder auch zu meinen Eltern. Lange fahre ich ihn nicht, nach etwa zwei Jahren endet die Liebe beim TÜV in Düsseldorf, und ich steige wieder auf das Fahrrad um.
Später gibt es dann kurzfristig noch einen gelben Ford Fiesta und einen blauen Mazda. Aber im Kern bleibe ich Radfahrer. In Köln, in Hamburg. Als meine Partnerin und ich Mitte der 1990er-Jahre nach Washington ziehen, werden wir zu Automenschen. Das Erste, was wir dort kaufen, ist ein Auto. Einen Chrysler Le Baron, Baujahr 1988, ein Cabriolet. Auf Knopfdruck senkt sich das Dach in den Kofferraum.
Wir fahren lange Strecken über leere Highways, und wie im Film lauerte der Polizeiwagen versteckt hinter der Plakatwand. Aber um die Städte staut sich auf vier, sechs oder gar zwölf Fahrspuren der Verkehr. Bei einer Umfrage, was Autofahrer in ihren Wagen am meisten vermissen, kommt heraus: eine Mikrowelle, damit sie sich während der Heimfahrt ihr Abendessen zubereiten können.
Schade: "Natürlich, Stau ist etwas, was viele als aversiv erleben. Aber heute kommt Stau in der Regel bei den allgemeinen Pendlerfahrten ja kaum noch überraschend vor. Viele rechnen auch damit, berücksichtigen das in ihrer Planung, und dadurch ist es wieder auch als selbstbestimmt erlebt."
Als unser Sohn geboren wird, tauschen wir das Cabriolet gegen einen Kombi. Hässlich, aber praktisch. Und als wir als Kleinfamilie zurück nach Europa, nach Brüssel ziehen, stellt sich die Frage, ob der wirklich nötig ist, gar nicht mehr. Wir haben uns einfach dran gewöhnt: Eine Familie hat ein Auto, das ist praktisch. Wir sind zu Automenschen geworden. Zu Kombimenschen. Da passt das Kinderfahrrad unseres Sohnes rein, dann wieder der Kinderwagen, als unsere Tochter geboren wird. Und das Fahrrad dazu.


Wir nutzen den Kombi selten, trotzdem wird er irgendwann gegen einen neuen ausgetauscht.
Knie: "Wir haben jetzt die neuesten Zahlen validiert: Es sind jetzt fast wirklich 94 Prozent der Zeit, die ein Auto wirklich steht von den theoretisch 100 Prozent, und der Besetzungsgrad ist jetzt sogar noch unter 1,1 gefallen. Also in Deutschland, wir sind jetzt bei 1,04."
Das heißt: Im Durchschnitt stehen Autos 22,56 Stunden am Tag herum oder 343 Tage im Jahr. Und warum sie fünf oder gar sieben Sitze haben, ist auch nicht unbedingt einleuchtend. Der Sozialwissenschaftler Andreas Knie konstatiert einen schleichenden Bedeutungsverlust des Autos.
Knie: "Das Auto ist quasi an seinem eigenen Erfolg erstickt, es ist einfach viel, zu viel vom gleichen: Alle haben Verbrennungsmotoren, alle verpesten die Luft, alle stehen dumm rum."
Und dann bleibt nichts mehr vom "Mythos Automobil", den der französische Philosoph Roland Barthes 1955 am Beispiel des Citroen DS beschwor:
"Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist. Ich meine damit: eine große Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wurde, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet."
Günther Wessel mit seinem Chrysler Le Baron 1998. Ein weißes Cabrio fährt über eine Straße.
Günther Wessel in seinem Chrysler Le Baron 1998.© Günther Wessel

Das Auto abzugeben, fällt schwer

Ich habe mich schon früh als ökologisch denkender Mensch gefühlt, der die Natur schützt, der nicht sinnlos Ressourcen verbrauchen wollte. Der schon immer freiwillig langsam auf Autobahnen fuhr – vielleicht auch aus familiärer Prägung. Auf dem Käfer klebt auch ein Anti-Atomkraft-Sticker. Doch wirklich aus dem Auto auszusteigen, fällt schwer. Denn es gibt immer genug Gründe, ein Auto zu besitzen: die Großeinkäufe für die Familien, das Cello der Tochter, das Kaninchenstreu aus dem Bau-, die Bierkästen vom Getränkemarkt.
Und die Alternativen?
Vassilakou: "Die wahre Erfolgsgeschichte Wiens ist die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. 39 Prozent aller Alltagswege werden mit den Öffis zurückgelegt", sagt die ehemalige grüne Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou. In ihrer Amtszeit wurde in der österreichischen Hauptstadt die Jahreskarte für die öffentlichen Verkehrsmittel radikal verbilligt.
Vassilakou: "In Wien kostet die Jahreskarte 365 Euro, das heißt, für einen Euro pro Tag kann man eines der dichtesten Öffi-Netze, die es weltweit gibt, nutzen."
Obwohl inzwischen mehr als jeder zweite Wiener öffentliche Verkehrsmittel nutzt, ist auch dort das private Auto immer noch vorherrschend. Was helfen könnte, was vielen Städten helfen könnte, ist unbeliebt: eine Citymaut. Das Autofahren in Innenstädten mit Gebühren belegen.
Schade: "Ich kenne keine andere Maßnahme, die in der Lage ist, solche substanziellen Verkehrsrückgänge herzustellen wie diese eine", sagt der Dresdner Verkehrspsychologe Jens Schade.
"Die Städte, die das bisher gemacht haben, die haben tatsächlich damit auch Erfolge. Also zum Beispiel das Geld, das in Stockholm oder auch London erwirtschaftet wird, das geht in die Förderung des öffentlichen Verkehrs."


Die Citymaut ist das eine, das andere eine bessere Verknüpfung unterschiedlicher Verkehrsmittel: Busse und Bahnen, Leihräder oder private, auch elektrische Roller.
Der Sozialwissenschaftler Andreas Knie: "Die Menschen vernetzen immer mehr ihre Verkehrsmittel. Das heißt, man fährt mit dem Rad mal zur U-Bahn, fährt dann mit der U-Bahn weiter, hat dann vielleicht eine Lücke, dann nutzt man noch einmal das Taxi oder man geht auch mal, was auch interessant ist, längere Strecken mal zu Fuß, jedenfalls ist die Kombination der Verkehrsmittel mittlerweile in den Städten vorherrschend."
Eine Verknüpfung, die über Datenaustausch, Handy-Apps und Ähnliches leicht zu bewerkstelligen wäre. Doch am Ende braucht man auch grundlegenden Änderungen.
Der Verkehrswissenschaftler Jürgen Gies vom Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin konstatiert trocken:
"Das Verkehrssystem, das eben eine sehr starke Dominanz von Autos im Privatbesitz hat, ist sehr ineffizient, was die Nutzung von den Kapazitäten anbelangt."
Und Stefanie Krone vom ADFC ergänzt: "Selbst die komplette Elektrifizierung der Autoflotte in Deutschland wir nicht zum Ziel führen: Denn wenn wir alle im E-SUV auf der Straße unterwegs sind, stehen wir trotzdem im Stau."
Mich brachte etwas anderes endgültig vom Auto weg.
Verkehrsstau auf der Autobahn A3, am Breitscheider Kreuz in Fahrtrichtung Oberhausen, Ratingen, NRW. Autos stehen auf mehreren Spuren dicht an dicht.
Viele haben sich an Stop-and-go gewöhnt. Verkehrsstau auf der Autobahn A3, am Breitscheider Kreuz in Fahrtrichtung Oberhausen, Ratingen.© imago/Jochen Tack

Jährlich Tausende Tote auf den Straßen

Ich hatte im Straßenverkehr immer zwei Ängste: angefahren zu werden oder jemanden anzufahren.
9. Juli 2017, aus dem Polizeiprotokoll/Akte 086/17/0003943/9:
"Bei Eintreffen der Beamten war die Unfallstelle bereits geräumt. Nach erfolgter Belehrung machte 02 folgende Angaben zum Sachverhalt: Genau könne er sich an den Unfallhergang aufgrund des Sturzes nicht mehr erinnern. Er befuhr die K6903 aus Richtung Teltow kommend in Richtung Ludwigsfelde. Auf Höhe der Unfallstelle sah er noch den 01 entgegenkommen und versuchte zu bremsen. Weiter konnte der 02 nichts dazu sagen."
02 bin ich, unterwegs an diesem Sonntagnachmittag mit dem Rennrad in Brandenburg. Leicht verletzt heißt: sehr viel Glück gehabt. Eine Gehirnerschütterung, eine stark blutende Wunde am Arm, die geklebt werden kann, Prellungen am Oberkörper und an den Beinen, Zerrungen am Oberkörper. Röntgen und Ultraschall ergeben: keine Brüche, keine inneren Verletzungen. Der Fahrradhelm ist oberhalb der linken Schläfe geborsten.
Das Rennrad: Gabelbruch. Lenkerbruch. Bremshebel geborsten. Schlauch beim Aufprall geplatzt. Der Autofahrer 01 hatte mir die Vorfahrt genommen.
Seit 1950 sind mehr als 778.000 Menschen auf deutschen Straßen gestorben und mehr als 31 Millionen Menschen verletzt worden.
Mein Unfall im Jahr 2017 war einer von 2,64 Millionen, die die Polizei registrierte, und ich war eine der dabei knapp 400.000 verletzten Personen. Wäre ich minimal schneller unterwegs gewesen, hätte mich das Auto frontal gerammt. Dann wäre ich vielleicht einer der 66.000 Schwerverletzten. Oder gar einer der 3180 Verkehrstoten. Allerdings nur, wenn ich innerhalb von 30 Tagen nach dem Unfall gestorben wäre. Wer länger lebt, fällt aus der Verkehrsstatistik raus.
Knoflacher: "Wir bringen jährlich 1,3 Millionen Menschen damit um. Und 20 bis 50 Millionen werden mehr oder weniger schwer verletzt. Verstümmelt. (Anmerkung der Redaktion: weltweit). Das muss man sich einmal vorstellen."
Laut Bundesverkehrsministerium sind im Durchschnitt in Deutschland 113 weitere Menschen vom Verkehrstod eines Einzelnen betroffen: elf Familienangehörige, vier enge Freunde, 56 Freunde und Bekannte, 42 Einsatzkräfte – Feuerwehrleute, Notärzte, Sanitäter, Ersthelfer, Polizisten, Abschleppfahrer, Bestatter. 3180 mal 113 Menschen.
Knoflacher: "Ein Irrsinn, genau genommen, der täglich stattfindet, der nur dadurch erklärt werden kann, dass das Auto das Denken steuert."

Warum bedeutet uns das Auto so viel?

Kognitiv ist alles einfach: Wir wissen, dass Autofahren schädlich ist. Für uns und die Umwelt. Wir wissen, dass wir das ändern müssen. Ideen gibt es genug: Tempolimits. Innerstädtisch überall Höchsttempo 30. Größenbeschränkungen für Pkw. Abschaffung von Dienstwagen. Reduzierung von Parkflächen. Besserer Ausbau von Bus und Bahn. Sichere, saubere Bahnhöfe mit Personal. Engere Taktzeiten, schönere Verkehrsmittel. Ausbau von sicheren, breiten Radwegen, getrennt von den Fußgängern. Den schwächsten Verkehrsteilnehmern die meiste Rechte zubilligen: Fußgängern mehr als Radfahrern mehr als Autofahrern.
Es ist fast egal, womit man anfängt. Aber ohne Einschnitte für den Autoverkehr geht es nicht.
Warum tun wir uns so schwer damit? Warum agiert die Politik so mutlos?
Andreas Knie hat eine Antwort: "Weil wir 40, 50 Jahre dafür gekämpft haben und Politik gemacht haben, damit wir uns diese Autos leisten können, damit wir ein Auto kaufen können, damit wir das Auto abstellen können, dass die Straße vor allem dem Auto gehört, und da, wo keine Straße war, haben wir eine Straße gebaut, und aus diesem Korsett kommen wir so schnell nicht raus. Deshalb gibt es nach wie vor viele Autos, wir haben die ganzen Steuerprivilegien, und es ist heute noch so, wer kein eigenes Auto selbst hat, der ist praktisch selbst schuld."
Ich bin‘s. Im Laufe der letzten Jahre habe ich gemerkt, dass ich kein Auto brauche. Dass ich genauso gut oder besser durch die Stadt komme, dass ich das S-Bahn-Fahren zwar nicht liebe, ich da aber Zeitung oder ein Buch lesen kann und mitunter sogar mit jemandem in Kontakt komme. Und wenn ich nicht in der S-Bahn sitze, dann auf dem Fahrrad.
Mein Vater stieg ein ins Auto, baute Straßen und glaubte an die autogerechte Stadt.
W. Wessel: "Das Auto war damals natürlich noch frisch. Und jeder wollte es haben. Es wurde viel gebaut. Und der Verkehr – der Verkehr, der kam."
Er besitzt heute, 95-jährig, immer noch eines, auch wenn er seit zehn Jahren nicht mehr damit fährt. Dafür seine Pflegekraft und ich, wenn ich mit ihm in ein Restaurant fahre.
Wessel: "Warum ich ein Auto hab? Weil ich es einmal hab! Weil ich es einmal habe."
Ich bin ausgestiegen und möchte mehr sichere Infrastruktur für Radfahrer. Ob meine Kinder jemals einsteigen?
"Ich brauch einfach keinen Führerschein. Ich bin in Berlin, ich wohne in einer Großstadt. Man kommt hier super überall mit Bus, Bahn und Fahrrad hin, und auch wenn man irgendwie wegfahren will, sind die meisten Orte super mit Bus und Bahn erreichbar. Ich brauche kein Auto. Und dann kommen die ganzen ökologischen Gründe dazu", sagt Jakob Wessel, 19 Jahre, Student.
Meine 15-jährige Tochter engagiert sich im Klimaschutz. Den motorisierten Individualverkehr findet sie furchtbar. Ich habe im Sommer 2018 mein letztes Auto verschenkt. An Menschen, die glauben, weiterhin eines besitzen zu müssen. Was nicht abwertend oder böse gemeint ist. Sonst hätte ich es auch nicht verschenkt. Nun steht das da etwa 26 von 31 Tagen vor deren Haus herum. Denn auch die neuen Besitzer fahren eigentlich lieber Fahrrad.
Die Erstausstrahlung des Features von Günther Wessel war am 11. Februar 2020.

Es sprechen: Günther Wessel, Viktor Neumann
Ton: Andreas Stoffels
Regie: Klaus Michael Klingsporn
Redaktion: Martin Hartwig

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