Empfindung verarbeitet in Karten

14.02.2012
Die Essays über Angst, Albernheit und andere Stimmungen werfen viele Fragen auf. Subjektive Empfindungen lassen sich schlecht objektiv darstellen. Die Essays haben keine gemeinsame Grundstimmung, einige Bände aber fördern tatsächlich die Orientierung in der Gegenwart.
Wer nicht großzügig gestimmt ist, wird am "Kleinen Stimmungsatlas" einiges zu bekritteln haben: Sind "Bildzweifel" - falls jemand weiß, was das ist - etwa eine Stimmung? Ist es "Modernität"? Und warum präsentiert man subjektive Stimmungen in einem Atlas, der die Welt per Definition kartographisch-objektiv darstellt? Die Herausgeber Jan-Frederik Bandel und Nora Sdun kennen solche Einwände gegen ihr "universalenzyklopädisches Unterfangen", geben sich in Interviews jedoch betont "realitätsverkennend und größenwahnsinnig", also provokativ. Sie kämpfen gegen das "Schreckensregime des fröhlichen Oberflächenwissens" und wollen der ästhetischen Weltbetrachtung neue Perspektiven eröffnen. Soweit also die Absichten.

Zunächst einmal: Die einzelnen Essays haben keine gemeinsame Grundstimmung. Thomas Ganns "Angst"-Atlas zum Beispiel bietet solide literaturwissenschaftliche Aufsätze. Man lernt das "Zischen" in Kafkas Erzählung "Der Bau" als Akustik der Angst kennen, Ernst Jüngers heroische Blutoper "In Stahlgewittern" erscheint als Panzerung einer angstvollen Psyche. Insgesamt verbreitet das Bändchen gehobene germanistische Sammelband-Atmosphäre, von den speziellen Ängsten der Gegenwart ist allerdings nichts zu spüren.

Frecher geht der Künstler und Manager Armin Chodzinski dagen mit der "Verkrampfung" um. Nach einem Ausflug an die Umtauschkasse bei Ikea häuft Chodzinski apodiktische Urteile ("Im Sport und beim Sex steigt die Verkrampfung"), gefällt sich in Zeitgeist-Rhetorik ("Der Hahn ist tot. Calvin lebt"), bietet Definitionen ("Das verkrampfte Subjekt hat keine Angst, es denkt in Rücksichten und Sprachlosigkeiten") und steigert sich zu der erstaunlichen These "Verkrampfung ist ein Problem des Raumes". Gleichzeitig erscheint Verkrampfung als Defekt in der Beziehung zwischen Individuum und Möglichkeitswelt, was zum "Zerbrechen am Konjunktiv" führt. Davon hat man schon gehört, aber egal. Chodzinski und wie er die Welt sieht: Das passt zum Atlas-Projekt.

Den bislang besten Essay haben Michael Glasmeier und Lisa Steib über "Albernheit" geschrieben. Albernheit, die - wie Angst - immer kommt, wann sie will, nicht wann wir wollen, ist anarchistisch und unterläuft die Rituale der Sinn-Produktion. Kant befand, dass "nicht wenig Geist dazu gehöre den Verstand für kurze Zeit von seinem Posten abzurufen". Glasmeier und Steib bleiben auf dem Posten, erfreuen sich aber an der spaßigen Abberufungs-Option. Was man von Dieter Wenk, der eine rein literaturhistorische Betrachtung zur "Modernität" liefert, und von Stefan Ripplinger, der komplex-kompliziert über "Bildzweifel" (zwischen Bildgläubigkeit und Bilderstürmerei) nachdenkt, kaum sagen kann. Beide Bände sind so kompetent wie trocken. Während die Erkenntnis steigt, sinkt die Stimmung. Das tut der sympathischen Atlas-Idee nicht gut. Text-Exerzitien kann man sich ja auch anderswo verschaffen.

Das Fazit nach fünf Bänden: "Angst", "Bildzweifel" und "Modernität" sind historische Atlanten zur Orientierung in der Vergangenheit. Die aktuellen Atlanten "Albernheit" und "Verkrampfung" fördern die Orientierung in der Gegenwart. Davon gern mehr.

Besprochen von Arno Orzessek

Jan-Frederik Bandel und Nora Sdun (Hrsg.): "Kleiner Stimmungsatlas in Einzelbänden"

Bd. 1: Michael Glasmeier und Lisa Steib: "Albernheit"
Bd. 2: Thomas Gann: "Angst"
Bd. 3: Armin Chodzinski: "Verkrampfung"
Bd. 4: Dieter Wenk: "Modernität"
Bd. 5: Stefan Ripplinger: "Bildzweifel"

Textem Verlag, Hamburg 2011ff
jeweils ca. 100 Seiten, 12 Euro
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